Es ist ein Bild für die Ewigkeit – eines, das sportlichen Triumph und privates Glück verbindet. Die 19-jährige Nidwaldnerin Erika Hess wird an der Ski-WM 1982 in Haus im Ennstal (Ö) von ihrem Konditionstrainer Jacques Reymond aus dem Zielraum getragen. Es ist eine von drei Goldmedaillen von Hess an diesen Titelkämpfen. Was die Öffentlichkeit nicht ahnt: Der Mann, der die junge Skirennfahrerin stark gemacht hat, wird später die Liebe ihres Lebens.
Brigitte Oertli, 57, damalige Teamkollegin von Hess und bis heute eine ihrer engsten Vertrauten, sagt: «Die Verbindung zwischen Jacques und Erika war eine perfekte Symbiose. Die beiden gehörten zusammen.» Für die zweifache Olympiamedaillengewinnerin ist Reymond auch persönlich eine wichtige Bezugsperson. Oertli spricht von einem «blinden Verständnis»: «Jacques war jeweils der Erste, der uns im Ziel in Empfang nahm und mit uns die Emotionen teilte.» Die Zürcherin erinnert sich an einen Satz, den sie ihrem welschen Trainer nach einem Rennen zurief: «Je suis presque zweimal tombée!» Oertli lacht, wenn sie dies erzählt – und schluckt dann leer: «Nicht jeder Trainer ist ein Vorbild. Aber Jacques war mit seiner menschlichen und einfühlsamen Art ein grosses Vorbild.»
Reymonds Liaison mit Erika Hess birgt indes Konfliktpotenzial. Nicht alle sehen es gerne, dass Trainer und Athletin mehr als nur die Leidenschaft für den Sport teilen. «Es gab damals schon leichte Eifersüchteleien von anderen Fahrerinnen», erinnert sich Hess unlängst. Doch der Verband findet eine pragmatische Lösung: Jacques wird 1987 zum Männerteam wegbefördert.
Von dieser Konstellation profitiert der erfolgreichste Schweizer Skirennfahrer der Geschichte – der heute 57-jährige Walliser Pirmin Zurbriggen. Für ihn ist Reymond ein «unvergesslicher Trainer und unglaublich starker Motivator». Reymond habe stets im Guten und im Positiven gehandelt. Er sei ein Trainer gewesen, der auch viel Wert auf die psychologische Arbeit legte: «Seine Einheiten waren hart, aber danach sass man auch wieder fröhlich zusammen.» Zurbriggen erinnert sich an eine ganz spezielle Lektion, als Reymond die Athleten an einem Kinderskihang auffordert, im Stemmbogen hinunterzufahren – und damit allgemeines Kopfschütteln auslöst. Heute sagt Zurbriggen dazu: «Die Aktion war Ausdruck seiner Lebensphilosophie. Jacques verstand den Sport als soziale Basis und wollte die Fahrer zu ihren Wurzeln führen.»
Swiss-Ski-Präsident und Abfahrtsweltmeister Urs Lehmann, 51, würdigt die Verdienste von Reymond, Cheftrainer von 1993 bis 1995, aufs Höchste: «Er war mein wichtigster Chef.»
Die dreifache Olympiasiegerin Vreni Schneider, 55, kämpft bei den Erinnerungen an Jacques Reymond mit den Tränen: «Jacques war ein willensstarker, bodenständiger und humorvoller Mann.» Man habe mit ihm stets über alles sprechen können, die Türen seien immer weit offen gewesen. Schneiders Gedanken sind bei der Familie Reymond: «Erika war neben Lise-Marie Morerod mein grosses Vorbild. Später wurde sie meine Freundin und meine Zimmerkollegin.»
Erika Hess beendet ihre Karriere bereits mit 25 Jahren – es ist auch ein Bekenntnis zu ihrer Beziehung. 1988 heiratet sie Jacques Reymond, zieht mit ihm nach St-Légier VD und schenkt ihm drei Söhne, Fabian, Nicolas und Marco. «Wir sind verliebt wie am ersten Tag», verrät Jacques der Schweizer Illustrierten vor ein paar Jahren das Geheimnis ihrer symbiotischen Ehe. Und Erika ergänzt bei jenem Besuch: «Unglaublich, aber wir hatten in den weit über 30 Jahren, die wir nun zusammen sind, noch keine einzige Beziehungskrise!» Noch heute ist ihr Nidwaldner Dialekt deutlich zu hören – gelegentlich schleicht sich aber ein welscher Akzent in ihre Sprache: «Das Waadtland ist meine neue Heimat geworden, ich habe Wurzeln geschlagen.»
Nun ist alles anders. Vor wenigen Wochen erkrankt Jacques Reymond an Covid-19, nur die engsten Freunde und Verwandten wissen Bescheid. Jacques kämpft mit dem Einsatz eines Spitzensportlers und der Kraft des Familienvaters mit dem perfiden Virus. Es scheint bereits, als habe er das Schlimmste überstanden – da erleidet er einen schweren Rückschlag. Am 7. Mai endet sein letztes Rennen – am Tag nach dem 32. Hochzeitstag.
Das ganze Umfeld reagiert mit Fassungslosigkeit. Marie-Theres Nadig, 66, zweifache Olympiasiegerin von Sapporo, ringt um Worte – und lobt Reymond für dessen soziale Kompetenz: «Er setzte sich auch für jene Fahrerinnen und Fahrer ein, die weniger erfolgreich waren. Er war ein liebenswürdiger Mensch mit einem köstlichen Humor.»
Die Reymonds haben jede Phase des Lebens aufs Neue genossen. Jacques verfolgt die Karriere des jüngsten Sohnes Marco, 26, mit väterlicher Leidenschaft und fachmännischer Akribie. Die österreichische Trainerlegende Karl Frehsner, 80, Reymonds langjähriger Weggefährte, sagt: «Mit seiner intuitiven Art war Jacques prädestiniert für den Umgang mit jungen Fahrern.» Über 30 Jahre lang organisieren Erika und Jacques Reymond eigene Trainingslager für Nachwuchsathleten. Sie betreuen in dieser Zeit rund 20 000 Jugendliche und tragen so wesentlich zur Nachwuchsarbeit im Schweizer Skisport bei. «Unsere Erfahrungen als Trainer und Athlet, aber auch als Eltern haben uns dabei sehr geholfen», so Jacques Reymond. Ende 2018 ziehen sie sich aus dem Geschäft zurück. Wohl auch aus gesundheitlichen Gründen: Das Herz macht Jacques Reymond dann und wann zu schaffen.
Auch wenn der Skisport das Leben des Paares Reymond-Hess geprägt hat – im Zentrum steht stets die Familie. Perfekt wird das Familienglück vor einem Jahr, als der älteste Sohn Fabian, 31, und dessen Ehefrau Delphine, 31, Erika und Jacques zu Grosseltern machen. Mitte März sagt Erika der «GlücksPost»: «Die kleine Chloé ist ein Sonnenschein, ein wunderbares Geschenk. Und wir haben Glück, dass Delphine und Fabian uns die Kleine ab und zu anvertrauen.» Liebevoll nennt sie ihre Enkelin: «Ma petite fleur.»
Die Familie gibt Erika Hess jetzt Halt. «Ich habe Erika diese Woche am Telefon sehr gefasst erlebt. Sie ist seit je ein geerdeter Mensch», sagt ihr früherer Manager Geny Hess, 73, aus Engelberg OW. «Ihre drei tollen Söhne stehen ihrer Mutter nun in dieser schweren Zeit bei.»
Alt Bundesrat Adolf Ogi, 77, der den Verstorbenen aus seiner langen Arbeit für den Skiverband sehr gut kannte, würdigt Reymond als «Trainer mit höchstem Anspruch auf Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Gradlinigkeit und Solidarität». Noch am vorletzten Donnerstag habe er mit Erika telefoniert, erzählt Ogi – und er habe auf eine Wende zum Guten gehofft: «Doch am nächsten Morgen teilte mir Erika das Traurige mit.» Dölf Ogi hält inne. Sein Schweigen sagt mehr als tausend Worte: Der Schweizer Sport trauert um eine grosse Persönlichkeit und die Familie Hess-Reymond um einen liebevollen Ehemann, einen fürsorgenden Vater und Grossvater.