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Koch des Jahres 2026

Jérémy Desbraux vereint Tradition und Innovation

In Crissier geschliffen, im Jura gereift: GaultMillau krönt Jérémy Desbraux für seine elegante Küche, die stets nahe an der Natur bleibt, zum «Koch des Jahres 2026». Alle lieben die traumhaften Saucen des 39-Jährigen – nur seine Tochter nicht.

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<p>«Wenn ich meine Toque im Restuarant nicht trage, fühle ich mich unvollständig»,sagt Jérémy Desbraux.</p>

«Wenn ich meine Toque im Restuarant nicht trage, fühle ich mich unvollständig»,sagt Jérémy Desbraux.

Julie de Tribolet

Der Händedruck ist fest, die Kochjacke und die locker 30 Zentimeter hohe Toque leuchten blütenweiss. Würde man die Stichwörter «Franzose», «Küchenchef», «jung» und «dynamisch» in ein KI-Grafikprogramm eingeben, käme ein Bild heraus, das dem von Jérémy Desbraux verblüffend ähnelte.

Doch was bedeutet die Kochmütze für Desbraux, den Chef der «Maison Wenger» in Le Noirmont JU? Eine Demonstration klassischer Werte, Autorität? «Die Toque symbolisiert für mich ganz einfach den Übergang von der Privatperson zum Küchenchef. Wenn ich sie im Restaurant nicht trage, fühle ich mich unvollständig», erklärt der 39-Jährige mit einem Lächeln.

<p>Jérémy Desbraux und seine Frau Anaëlle Roze lernten sich in Le Noirmont kennen, als er als Gast hierherkam.</p>

Jérémy Desbraux und seine Frau Anaëlle Roze lernten sich in Le Noirmont kennen, als er als Gast hierherkam.

Julie de Tribolet

Die Brigade in der «Maison Wenger» arbeitet so gut abgestimmt und konzentriert wie ein Spitzenorchester. Desbraux ist der Dirigent dieses stillen Orchesters, hat alles im Blick, probiert, schmeckt ab, annonciert und gibt den Tellern am Pass seinen Segen, bevor sie die Küche verlassen. Von der Table d’hôte, dem «Chef’s Table», wie es auf Neudeutsch heisst, hat man einen perfekten Ausblick auf den Pass und den grossen Herd in der Mitte der Küche. 13 Köchinnen und Köche arbeiten hier, viele seit Jahren. Élena Deglaire, Desbraux’ rechte Hand, schon seit dem ersten Tag. Die Saucenpfännchen stehen in Reih und Glied; der Duft, der aus ihnen emporsteigt, weckt Neugier.

<p>Zu den knackigen grünen Bohnen serviert Jérémy Desbraux eine Mousseline mit Tannenschösslingen und feiner Säure.</p>

Zu den knackigen grünen Bohnen serviert Jérémy Desbraux eine Mousseline mit Tannenschösslingen und feiner Säure.

Julie de Tribolet
<p>Der Clou an der Steinpilzsauce zum Überraschungsei ist Mädesüss. Â part werden Pfifferlinge gereicht.</p>

Der Clou an der Steinpilzsauce zum Überraschungsei ist Mädesüss. Â part werden Pfifferlinge gereicht.

Julie de Tribolet

Desbraux ist das, was man salopp einen «Saucengott» nennt. Der von seiner Frau Anaëlle Roze geführte Service trägt diesem Umstand Rechnung, indem er zu jedem Gericht ein ganzes Kännchen der kostbaren Essenzen reicht. Und es gibt kaum Gäste, die der Versuchung widerstehen können. Links und rechts sieht man, wie Menschen mit glücklichen Gesichtern Sauce auf den dafür bestimmten Löffel fliessen lassen und diesen anschliessend genüsslich durch den Mund ziehen. Ironie der Geschichte: Lenya, die sechsjährige Tochter von Jérémy und Anaëlle, mag keine Saucen. Weder zu Pasta noch zu Fondue chinoise. «Höchstens ein wenig Mayonnaise akzeptiert sie. Sie ist der Meinung, die Sauce verändere den Geschmack einer Speise zu sehr», sagt der Papa.

Der Kanton Jura auf dem Teller

Dass er von seiner elfjährigen Tätigkeit im «Hôtel de Ville» in Crissier geprägt ist, kann und will der 39-jährige Desbraux nicht leugnen. Trotzdem kocht er sehr eigenständig – und legt grossen Wert darauf, neben der Saison auch den Kanton Jura auf dem Teller abzubilden. Zum Beispiel in Gestalt einer sanft gegarten Forelle, die tags zuvor noch in Quellwasser aus den Franches-Montagnes schwamm und sich nun an einen mit Zitronenverbene parfümierten Fumet schmiegt. Das Hauptprodukt ist bei Desbraux stets der Star auf dem Teller. Den übrigen Komponenten, auch der Sauce, kommt die Aufgabe zu, den Star noch heller scheinen zu lassen. Nur an wenigen Orten findet man eine Küche von einer solchen Geradlinigkeit und Klarheit.

Fühlt sich Desbraux, der in Belfort aufgewachsen ist und seit 2019 in Le Noirmont wirkt, heute mehr als französischer oder als jurassischer Koch? «Ich bin auch nach 17 Jahren in der Schweiz ein französischer Koch geblieben, die Küche von Bocuse oder den Brüdern Troisgros ist für mich die Referenz. Was ich in unserem Restaurant auf die Karte setze, ist aber zunehmend geprägt vom Jura.

<p>Desbraux' Bruder Florian (hinten) ist Patissier in der «Maison Wenger». Er hilft Jérémy natürlich beim Brotbacken.</p>

Desbraux' Bruder Florian (hinten) ist Patissier in der «Maison Wenger». Er hilft Jérémy natürlich beim Brotbacken.

Julie de Tribolet

Ich liebe zum Beispiel Meeresfrüchte, serviere sie aber nur noch selten, weil sie eigentlich nicht hierhergehören», führt er aus. Dass sich die Logistik an einem so abgelegenen Ort wie Le Noirmont weit komplizierter gestaltet als in Zürich oder Basel, ist ein weiterer Grund, Zutaten aus der Region zu bevorzugen. «Wir haben hier unter anderem Butter und Eier von einzigartiger Güte.

Beides Produkte, die mir besonders am Herzen liegen», betont Desbraux. Ein Überraschungsei gehört immer zum Menü. Bei unserem Besuch ist es mit Pfifferlingen sowie einer traumhaften Sauce mit Steinpilzen und einem Touch Mädesüss veredelt. Wer braucht da einen eingeflogenen Hummer?

Die Liste der grossen Chefs, mit denen der «Koch des Jahres 2026» zusammenarbeiten durfte, ist lang: Etienne Krebs, Gérard Rabaey, Anne-Sophie Pic, Philippe Rochat, Benoît Violier und schliesslich Franck Giovannini. «Ich habe von allen etwas mitgenommen. Von Krebs die Erkenntnis, dass man Berufs- und Privatleben in eine gute Balance bringen kann, von Rabaey die Kompromisslosigkeit beim Einkauf, von Pic die feminine Präsentation, von meinen drei Chefs in Crissier Disziplin und technische Exzellenz», bilanziert er.

Spricht Desbraux von Violier, wird er nachdenklich: «Sein Suizid vor fast zehn Jahren war entsetzlich. Doch ich sagte mir: Du musst weitermachen, dich auf deine Arbeit konzentrieren. Und das habe ich getan.» Beruflich verdanke er Violier eine Menge: «Wenn ich mich auf einen Wettbewerb vorbereitete, kam er auch am Wochenende aus seiner Wohnung in die Restaurantküche herunter, probierte die Gerichte und gab mir Ratschläge. Er war immer da.»

Entspannen mit Velo und Brot

Ist der Service vorbei, setzt der Küchenchef der «Maison Wenger» seine Toque ab und verwandelt sich in den Familienvater Jérémy Desbraux. Der ist längst nicht so streng. «Wie könnte ich auch?», fragt Desbraux und streicht seiner Tochter liebevoll über das Haar. Die gemeinsamen Mahlzeiten mit seiner Frau, der kleinen Lenya und seinem Bruder Florian, der im Restaurant als Patissier arbeitet, sind für Desbraux wichtige Inseln im Alltag und helfen ihm, zwischendurch zu entspannen.

An freien Tagen verbringt er seine Zeit am liebsten mit dem Töchterchen, zum Beispiel in den Wäldern entlang des Doubs. Im Frühling sammeln Desbraux und seine Köche hier Tannenschösslinge, die – zu einer Mousseline mit feiner Säure verarbeitet – zum Auftakt unseres spätsommerlichen Menüs grüne Bohnen begleiten.

<p>Stolz auf den Chef: das Team der «Maison Wenger» beim Fototermin auf der Treppe gegenüber des Bahnhofs.</p>

Stolz auf den Chef: das Team der «Maison Wenger» beim Fototermin auf der Treppe gegenüber des Bahnhofs.

Julie de Tribolet

Wer Desbraux gegenübersteht, merkt sofort: Der Mann treibt viel Sport. Er hat muskulöse Arme und kein Gramm Fett rund um das markante Gesicht. «Ich bin ein begeisterter Radfahrer, pro Jahr spule ich gut und gerne 4000 Kilometer ab. Wie im Beruf liebe ich auch beim Sport die Herausforderung», erklärt er. Und gibt es neben der Familie und dem Sport noch etwas, das den 18-Punkte-Chef entspannt. «Brot backen», sagt er mit leuchtenden Augen. «Weil es etwas ganz anderes ist als das Kochen.

Mein Vater war Bäcker und hat mir diese Passion offensichtlich vererbt.» Die Gäste in der «Maison Wenger» kommen so in den Genuss von herausragendem Brot, das zweimal täglich frisch gebacken wird. Im nächsten Jahr kann die ganze Region profitieren: Desbraux plant die Eröffnung einer Bäckerei in Les Breuleux, einer Nachbargemeinde von Le Noirmont.

Alexander Kühn
Alex Kühnliebt bodenständiges Essen genauso wie filigrane Fine-Dining-Kreationen. Er ist rundum zufrieden, dass er in seinem Beruf stets hungrig und neugierig sein muss.Mehr erfahren
Von Alex Kühn vor 6 Stunden