«Blatten» steht in leuchtenden Buchstaben auf dem Postauto, das ins Lötschental fährt. Dieses Ziel wird es nicht erreichen. Dort, wo das Dorf Blatten war, sieht es aus der Distanz nun aus, als habe ein Kind einen Kessel Sand umgekippt. Unter der riesigen braunen Fläche begraben sind Spielsachen, Trachten, Fotoalben.
«Ich weiss nicht, was ich sagen soll.» Charlotte Kalbermatten (53) steht am Hang und lässt den Blick über das verschüttete Tal schweifen. Sie sieht es zum ersten Mal von hier oben. «Das ist zu gross für mich.»
«Vielleicht ist es unsere Aufgabe, dem Tal eine Stimme zu geben», sagt Lukas Kalbermatten.
Andrea SoltermannMit ihrem Mann Lukas Kalbermatten (55) betrieb sie das Hotel Edelweiss in Blatten. Die Evakuierung am 19. Mai regelte sie allein, Lukas war an dem Tag weg. Um 9.39 Uhr bekommt sie den Bescheid, dass Blatten evakuiert wird. Sie hat eine halbe Stunde Zeit. Im Nu gibt sie allen Gästen das Kommando zu gehen. Die Lichter löscht sie, die Fenster schliesst sie, das Frühstücksbuffet lässt sie stehen. Was sie mitnimmt? «Mein Handy, mein Ladekabel und meine kleine Tasche mit meinem Parfum, Medikamenten und einer Unterhose.» Sie lacht beim Gedanken daran, wie wenig das ist. «Ich dachte nur: Handy und Ladekabel sind das Wichtigste, damit ich erreichbar bin.»
Das einzige Überbleibsel: Charlotte Kalbermattens Handtasche, die sie bei der Evakuierung von Blatten mitnahm.
Andrea SoltermannEin Lied über das Heimatdorf
Wir sind in Kippel VS, am Eingang des Lötschentals. Blatten ist, oder war, weiter hinten im Tal. In Kippel können die Kalbermattens für die nächsten Jahre in einer Wohnung von Verwandten bleiben. Sie sitzen am Tisch, erzählen, berühren einander immer wieder. Lukas Kalbermatten, ehemaliger Gemeindepräsident von Blatten, versucht zu ordnen und zu analysieren. Bei ihr liegt das Herz auf der Zunge. Seit 28 Jahren sind sie verheiratet, seit 27 Jahren führen sie das «Edelweiss» in der dritten Generation. Als die Evakuierung durch ist, kehrt erst mal Ruhe ein. Die Kraft der Natur ist hier für niemanden neu. «Zwei der Gäste, die ich evakuiert habe, waren im Lawinenwinter 1999 auch schon bei uns im Hotel», erzählt Charlotte Kalbermatten und schüttelt den Kopf.
Zehn Tage nachdem sie Blatten verlassen hat, geht sie in Kippel ins Altersheim und hört sich ein Konzert an. Es ist Mittwochnachmittag. Die Jodlerin singt ein Walliser Volkslied: «Heimatderfji hert am Wald, va dr Sunna ubärmalt. Ja äs tröimt miär nur va diär und dü bischt so wiit va miär.» Charlotte Kalbermatten bekommt ein ungutes Gefühl. «Färtigä Schiissdräck», denkt sie, «hoffentlich passiert nichts Schlimmes.»
Ein stolzes Haus: Das «Edelweiss» war mit 56 Betten eines der grössten Hotels im Lötschental.
ZVGKaum deaktiviert sie nach dem Konzert den Flugmodus, ploppt auf ihrem Handy ein Alarm auf: Die Stromversorgung in ihrem Hotel ist unterbrochen. Sie stutzt. Geht aus dem Altersheim und sieht eine riesige Staubwolke. Ihr Mann ruft an, er ist gerade auf der Weritzalp oberhalb von Blatten. Einen Riesenknall habe es gegeben. Lukas: «Blatten steht ganz sicher nicht mehr.» Charlotte: «Was sagst du?»
Mit dem Feldstecher schaut sie nach hinten ins Tal, bis sie weisse Abdrücke um die Augen hat. Was passiert da gerade? Das ist doch nicht möglich. All die Jahre im Hotel Edelweiss? Weg. Die Zukunft im Haus Adler, das ihr Alterssitz hätte werden sollen? Weg. Charlotte Kalbermatten fährt mit dem Finger den Spalt auf dem Küchentisch entlang.
«Wo kann ich heuen?»
Esther Bellwald (47) und ihr Mann Laurent Hubert (53) sind in Wiler untergekommen. Das Dorf liegt zwischen Kippel und Blatten. Treffen sie hier auf andere Blattner, sagen sie nur: «Ich frag jetzt nicht, wies dir geht.» Für sich und ihre Söhne Noé (11) und Luc (9) suchen sie eine grössere Wohnung. Hier im Tal. «Wir nehmen unsere Kinder nicht vom Lötscherboden weg», sagt Esther Bellwald bestimmt. Einen Tag nach dem Unglück fragt Noé: «Wo kann ich diesen Sommer heuen?» Die Arbeit bei einem befreundeten Bauern war für ihn ein Highlight des Jahres.
«Den Rosenquarz habe ich vor Kurzem gekauft. Seither scheint es mir ein bisschen besser zu gehen», sagt Esther Bellwald.
Andrea SoltermannDas Ehepaar Bellwald-Hubert führte das älteste Hotel im Tal, das «Nest- und Bietschhorn». Sie rutscht beim Erzählen von einem Thema zum nächsten. Er bleibt in sich gekehrt, auch wenn er redet. Auf dem Stubentisch, der nicht ihr eigener ist, steht ein neu gekaufter Lego-Mähdrescher. Die alten Spielsachen fehlen den Kindern. Und doch, sagt Esther Bellwald, gingen sie anders mit der Katastrophe um als die Erwachsenen. «Zum 150-Jahre-Jubiläum unseres Hotels haben wir schöne Bücher machen lassen», erzählt sie. «Plötzlich fiel mir ein, dass die alle noch dort im Keller oder in meinem Büro sind – dass ich kein einziges mehr habe.» Beim Gedanken daran kamen ihr die Tränen, doch Sohn Noé sagte: «Die Bücher brauchen wir doch nicht, es gibt ja kein Hotel mehr.»
«Die Erinnerungen tun weh»: Die Hoteliers Laurent Hubert und Esther Bellwald verloren ihren Betrieb und ihr Zuhause.
Andrea Soltermann«Chez moi» im Lötschental
Das «Nest- und Bietschhorn» stand in Ried, einem kleinen Weiler bei Blatten. Esther Bellwald schaut auf die Gegend, die ihr Zuhause war. Neben ihr kreist ein Helikopter und zieht Bäume aus der Lonza. Irgendwo unter dieser Schlammdecke da hinten haben sie im April ein Fest gefeiert. Eine «Kitchen Party» vor den Betriebsferien. «Im Nachhinein war es gut, dass wir das gemacht haben», sagt Bellwald. «Aber ich möchte mich nicht daran erinnern.» Bilder des Hotels, in dem sie aufgewachsen ist, das ihre «Puppenstube» war, möchte sie nicht sehen. «Ich kann es noch nicht.» Bei der Evakuierung hatte sie extra alle Fensterläden geschlossen, um ihr Hotel vor Steinschlag oder dem Luftdruck einer Gerölllawine zu schützen. «Hätte ich die Scheissläden doch offen gelassen», denkt sie jetzt, «und mehr eingepackt.»
15 GaultMillau-Punkte: So empfingen Esther Bellwald und Laurent Hubert ihre Gäste im Hotel Nest- und Bietschhorn.
Kurt ReichenbachIhr Mann Laurent Hubert ist im Norden Frankreichs aufgewachsen. Seit einigen Jahren meinte er das Lötschental, wenn er «chez moi» sagte. Davor war es Frankreich gewesen, obwohl er schon lange in der Schweiz lebt. Nun hat das Geröll seine französischen Papiere begraben. «Wir wurden entwurzelt», sagen beide. Was passiert ist, fühle sich frisch an und gleichzeitig so, als sei eine Ewigkeit vergangen.
«Jetzt lernen wir für die Zukunft»
Die Zeit läuft weiter, auch ohne Blatten. Lukas Kalbermatten versucht Szenarien für die Zukunft zu entwerfen. Sein Telefon klingelt, schon wieder ein Journalist, der etwas von ihm wissen will. Kalbermatten, der Dorfführungen machte, weiss wie kaum ein anderer, was alles verloren ging. Er schwankt zwischen Angst («Wie werden sich die 300 Blattner in den anderen Dörfern integrieren?») und Zuversicht («Eigentlich ist das Ganze ein soziales Experiment»). Wie könnte ein neues Blatten aussehen? Wer soll den Wiederaufbau bezahlen? Und lohnt sich das überhaupt? Kalbermatten verzieht das Gesicht. Diese politisch aufgeladene Diskussion sei verfrüht und verletzend für die Menschen, die alles verloren haben. «Ich erwarte, dass man mit den Betroffenen redet – nicht über sie», sagt er. Gefahren habe es hier immer gegeben. «Jetzt lernen wir dazu für die Zukunft.»
Ist er wütend auf den Berg? «Nein», sagt Kalbermatten. «Ich bin wütend, dass es ausgerechnet bei uns passiert ist. Aber unser Tal lieben wir jetzt noch mehr als zuvor.» Die Hilfsbereitschaft sei enorm. Eine neue Nachbarin bringt ihnen selbst gebackenes Brot, ein Kollege schenkt ihm sein Velo, ein Chalet wird freigeräumt für eine Familie. «Jeder hilft, wo er kann. Es ist enorm, was wir hier gemeinsam leisten.»
Esther Bellwald hat eine Nachricht bekommen von einer Freundin aus Ferden weiter unten im Tal. «Ihr Blattner seid so stark. Wenn jemand den Wiederaufbau schafft, dann ihr!»
Im Volkslied, das Charlotte Kalbermatten an jenem Mittwochnachmit-tag gehört hatte, heisst es im Refrain: «Diini dunklu brüünu Hüüsini mit dä rotu Näglistrüüsjini» – deine dunkelbraunen Häuser mit den roten Nelkensträussen –, «oh dii wellti nomal gseh, oh dii wellti nomal gseh.»
Fakten zum Unglück in Blatten
36'360 SBB-Schüttgutwagen bräuchte es, um das gesamte Geröll abzutransportieren. Teilweise ist der Schuttkegel 100 Meter hoch.
2,7 Tonnen Gewicht kann der Spezialhelikopter vom Typ K-Max an seine Leine hängen. Er ist im Einsatz, um Baumstämme aus der Lonza zu ziehen, damit der Flusslauf nicht verstopft.
6,6 Millionen Franken spendet die Schweiz in den ersten fünf Tagen nach dem Bergsturz für die Betroffenen Blattnerinnen und Blattner.