Cologna, Raupe, Marsch, Walzer, Overdrive. So nennt Joseph Deiss die fünf Gangarten, in denen er auf seinen Wanderungen unterwegs ist. Am liebsten ist dem ehemaligen Bundesrat der Walzer: bei jedem dritten Schritt einen der beiden Wanderstöcke einsetzen, einmal links, einmal rechts. Schaltet der 75-Jährige in den finalen Overdrive, erfolgt der Stockeinsatz bei jedem vierten Schritt. So ist Deiss kürzlich auf seiner Wanderung von Fribourg nach Rom flott vorangekommen, bis zu 36 Kilometer am Tag. «La marche, c’est bon pour la santé», sagt der Freiburger in perfektem Akzent – Wandern ist gut für die Gesundheit. Er schmunzelt. «Nicht nur Lachen.»
Sieben Jahre war CVP-Politiker Joseph Deiss im Bundesrat, von 1999 bis 2006, erst als Aussenminister, dann leitete er das Volkswirtschaftsdepartement. Ab Juni 2010 war er ein Jahr lang Präsident der Uno-Generalversammlung. «Aus dem Bauch des Pottwals. Bunte Erinnerungen eines Bundesrates» heisst sein vor Kurzem publiziertes Buch,
in dem er interessante und amüsante Einblicke in seine Arbeit als Politiker gibt. Das mit dem Pottwal habe seine besondere Bewandtnis, erzählt Deiss auf einem Rundgang durch seinen geliebten Wohnort Fribourg, einen solchen Kehr mache er täglich. Immer wieder begrüssen ihn Einheimische mit «Salut, Seppi», das sei ihm lieber als Herr alt Bundesrat.
«Kommt der Pottwal von Steuerbord, hat er Vortritt. Kommt er von Backbord, auch»: Das Bonmot des Seglers Olivier de Kersauson dient dem zweisprachigen Freiburger als Leitmotiv. «Lasst uns Realitäten akzeptieren und in schwierigen Lagen geduldig sein!»
Nicht nur im Buch äussert sich Deiss zu Themen, die ihm am Herzen lie-gen. «Für mich als Befürworter eines Schweizer EU-Beitritts ist ein Rahmenabkommen dringend notwendig. Für diese vitale Sache steige ich gern wieder mal auf die Barrikaden.» Vor Kurzem ist er der Bewegung Progresuisse beigetreten. Wegen seiner Ansichten bekam er Morddrohungen: «Dieser Typ braucht eine Kugel», stand auf der Facebook-Site der Jungen SVP Schweiz. «Ich fühlte mich in meinem Grundrecht der Meinungsfreiheit betroffen. Zudem kam es aus dem Treibhaus der grössten Bundesratspartei. Entschuldigt hat sich niemand.»
«Wandern und Schreiben sind ideal, um Körper und Geist bei guter Laune zu halten»
Deiss rückt seine Corona-Maske zurecht. Die Pandemie sei der grösste Pottwal, den er je gesichtet habe. «Aus der Ferne betrachtet sehen wir wohl aus wie geköpfte Hühner, die irr herumrennen. Keiner ist Experte, und doch wissen es alle besser.» Für den Kriegsfall sieht die Schweizer Verfassung die Wahl eines Generals vor. «Vielleicht bräuchte es auch jetzt eine solche Vater- oder Mutterfigur und einen nationalen Schulterschluss.»
Doch Deiss hat nicht nur seine Politiker-Memoiren verfasst. 2019 publizierte er sein Buch «Nouvelles lettres
d’Italie». Darin beschreibt er seine Wanderungen auf dem Pilgerweg Via Francigena – dieser führt vom englischen Canterbury nach Rom. Von 2015 bis 2018 nahm Deiss die 1200 Kilometer lange Strecke von Fribourg in die Ewige Stadt unter die Füsse. Einmal pro Monat war er drei oder vier aufeinanderfolgende Tage unterwegs in einer seiner Gangarten. Cologna: bei jedem Schritt beide Stöcke einsetzen. Raupe: sich bei jedem Schritt auf einen Stock stützen. Marsch: bei jedem zweiten Schritt einen Stock setzen. Walzer, Overdrive.
Für An- und Heimreise benützte er öffentliche Verkehrsmittel. Seine Frau Babette, 71, freut sich, wenn er mit möglichst wenig Blasen heimkommt. «Sie ist nicht mehr so gut zu Fuss wie ich.» Ein paarmal war Deiss in Begleitung von Raphaël, dem ältesten seiner drei Kinder, sonst allein, «so ist man empfänglicher für Begegnungen». Immer dabei: der Fotoapparat. In der Po-Ebene ging es bei minus zehn Grad durch gefrorene Reisfelder. «Dafür hatte es keine Mücken.» Nach 50 Tagesetappen erreichte Deiss sein Ziel.
"Ich koche gern und viel. Immer im Team unter dem Leadership meiner Frau Babette"
Danach machte er sich von Fribourg nach Canterbury auf, im Frühjahr 2020 strandete er im französischen Arras – das letzte Stück bis Canterbury fiel vorläufig Pottwal Corona zum Opfer. Doch sein Wanderfieber liess ihn umgehend ein neues Projekt in Angriff nehmen, «Windrose Schweiz». Seither durchwandert er die Schweiz: vom westlichsten Punkt (Chancy GE) über den nördlichsten (Bargen SH) und den östlichsten (Piz Chavalatsch im Val Müstair GR) zum südlichsten (Pedrinate TI). Tagesschnitt: 25 Kilometer, Übernachtung in kleinen Hotels oder Gemeinschaftsunterkünften.
Abends angekommen, setzt er sich jeweils in die Gaststube, bestellt ein einheimisches Bier, schreibt seine Eindrücke in sein Handy, schickt sich diese per E-Mail ab. Daheim in Fribourg redigiert er die Texte auf Deutsch und Französisch. Auch zu Hause hat sein Alltag einen Rhythmus: um fünf Uhr aufstehen, täglich auf die Waage stehen, Turnübungen, eine Stunde wandern, schreiben und Büroarbeiten (zum Beispiel für sein Mandat als Sunrise-Verwaltungsrat), handwerken im Haus, kochen – «im Teamwork unter dem Leadership meiner Frau».
Seine Wanderungen an den Rändern der Schweiz wird Deiss detailgetreu in einem Buch beschreiben. Seine Gattin wird wie immer die Erste sein, die den Text liest. «Findet sie etwas nicht gut, dann weiss ich, das ist nichts. Babette war schon immer mein wichtigster Rückhalt.» Die Etappen, die Deiss zuletzt unter die Füsse nahm, führten ihn von Bargen nach St. Gallen. Sein nächster Marsch: von dort ins Prättigau. «Bergab wählt man am besten den gleichen Gang wie bergauf an gleicher Stelle.» Joseph Deiss freut sich. «Im Bündnerland werde ich ab und zu einen Cologna einlegen.»