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Avenir-Suisse-Direktor im Interview

Jürg Müller, wie widerstandsfähig ist die Schweiz?

Was macht unser Land so erfolgreich? Dieser Frage geht Avenir-Suisse-Direktor Jürg Müller im Buch «Antifragile Schweiz» nach. Er sagt, wie wir die Demokratie stärken – und was das mit einem Saunabesuch zu tun hat.

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<p>Die Denkfabrik Avenir Suisse hat ihre Büros in der ehemaligen Giessereihalle Puls 5 in Zürich. «Beim Velofahren kriege ich den Kopf frei», sagt Direktor Jürg Müller.</p>

Die Denkfabrik Avenir Suisse hat ihre Büros in der ehemaligen Giessereihalle Puls 5 in Zürich. «Beim Velofahren kriege ich den Kopf frei», sagt Direktor Jürg Müller.

Nik Hunger

Jürg Müller hat in seinem Büro einen runden Sitzungstisch stehen – aber keine Stühle. Die würden demnächst geliefert, sagt er. Bis dahin dienen sie als passende Metapher: Schliesslich sollte man es sich im Leben nie zu bequem machen, findet der Avenir-Suisse-Direktor.

Herr Müller, in diesem Gespräch haben wir es mit einem Zungenbrecher zu tun. Was heisst bitteschön Antifragilität?

Es bedeutet, dass man durch Widerstände und Herausforderungen stärker wird. Wie ein Muskel, der durch Training wächst.

Sind Sie antifragil?

Ich arbeite daran (lacht). Etwa indem ich mich mit Bewegung auspowere. Oder in der Sauna die Hitze aushalte – oder beim Meditieren die Stille.

Das von Ihnen herausgegebene Buch «Antifragile Schweiz» untersucht eine These des US-Intellektuellen Nassim Taleb. Der behauptete vor 13 Jahren, die Schweiz sei das antifragilste Land der Welt. Wie kam er denn da drauf?

Taleb begründet es so, dass die Schweiz von äusseren Erschütterungen profitierte und zum sicheren Hafen in Krisen wurde. Die Stärke und Stabilität kommen aber letztlich von innen: etwa vom Föderalismus oder dem dualen Bildungssystem.

Föderalismus und Berufslehren gibts auch andernorts. Hatten wir bisher nicht einfach auch sehr viel Glück?

Wir hatten Glück – aber eben nicht nur. Der Erfolg liegt zum grossen Teil am Design der Schweiz.

Das heisst?

Im Gegensatz zu anderen Ländern kommt bei uns der Gemeinsinn von unten – und nicht von oben. Unser Land wird von Bürgerinnen und Bürgern gelenkt. Die Politik wird am Schluss vom Individuum getragen und nicht von Eliten.

Eliten müssen doch nicht schlecht sein – sie können eine Vorbildfunktion haben.

Absolut. Es gibt bei uns viele Vorbilder unter den Führungspersonen – aber ihre Macht ist verteilt. Statt eines Präsidenten haben wir sieben Chefs und Chefinnen. Und im Milizsystem übernehmen die Bürger selbst Führungsrollen. Das verhindert abgehobene Eliten wie in anderen Ländern.

In Genf trafen sich vor Kurzem die USA und die Ukraine zum Aushandeln eines Friedensplans. Die Schweiz ist neutrale Gastgeberin. Stärkt ein solches Engagement unsere Antifragilität?

Definitiv. Die Schweiz bietet mit ihren Guten Diensten nicht nur der Welt etwas – sie knüpft auch internationale Kontakte für ihre eigenen Anliegen. Und sie kann ein besseres Verständnis für ihre gelebte Neutralität schaffen, die von manchen Ländern immer weniger akzeptiert wird.

Unsere direkte Demokratie wird im Buch als Erfolgsfaktor genannt. Doch die Volksabstimmung verkommt zur Absurdität – viele Vorlagen verstehen wir nicht mehr.

Ja, wir sind teilweise überfordert. Vom Inhalt der Initiativen – aber auch davon, dass es so viele sind! Unser System fühlt sich manchmal wie eine Zumutung an, weil es jedem extrem viel abverlangt.

Die Gefahr ist, dass wir gar nicht abstimmen und politikverdrossen werden.

Grundsätzlich ist die direkte Demokratie ein grossartiges Instrument. Es ist ein Ventil, das Unmut Luft verschaffen kann. Und es ist ein Siegel: Wenn das Volk einmal Ja oder Nein gesagt hat, beruhigt sich die Lage meist wieder. Die grossen Fragen sollten vom Volk beantwortet werden.

Aber?

Durch den demografischen Wandel ist es heute viel einfacher, Initiativen und Referenden zu starten. Darum stimmen wir manchmal über zu viele Sachen ab. Würden wir seltener abstimmen, hätten wir mehr Zeit für die Debatten. Wir sollten die Unterschriftenhürde an die Zahl der Stimmberechtigten koppeln – und entsprechend erhöhen.

Sie schreiben, dass zusätzliche Regulierungen meist keine gute Idee sind. Heisst Antifragilität «weniger Staat» – oder können auch Linke etwas mit dem Konzept anfangen?

Das Konzept der Antifragilität ist weder links noch rechts. Es geht darum, unsere Institutionen und unseren Gemeinsinn fit zu halten.

Was meinen Sie konkret?

Nehmen wir den Föderalismus, er ist Teil unseres Erfolgsmodells. Aber er darf nicht missbraucht werden: Etwa indem Kantone in Bern zu Bittstellern werden und zum Beispiel die Verantwortung für den Ausbau ihres Regionalverkehrs an den Bund abschieben.

Im Milizsystem kann sich jeder und jede engagieren. Doch viele Gemeinden können ihre Ämter nicht mehr besetzen – und ist man einmal gewählt, wird man immer häufiger angefeindet und bedroht.

Ja, es ist anspruchsvoller geworden, das Milizsystem mit der heutigen Lebensführung und der Arbeitswelt zu vereinbaren.

Warum?

Früher hatte man eher Zeit, ein solches Amt auszufüllen. Doch Globalisierung, Digitalisierung und neue Familienmodelle haben unseren Alltag umgekrempelt.

Die Unternehmen könnten ihren Angestellten Zeit geben für Lokalpolitik.

Viele ermöglichen das bereits. Man könnte auch die Wohnsitzpflicht für Milizämter aufheben. Oder ein Label für Milizfreundlichkeit einführen, das von einem privaten Fonds finanziert wird.

<p>Der ehemalige Journalist aus Wallisellen ZH ist seit 2023 Direktor des liberalen Thinktanks Avenir Suisse. Müller studierte VWL in St. Gallen. Er ist Kolumnist für die «NZZ am Sonntag» und lehrt an der Uni Zürich. Der 42-Jährige fährt gerne Velo und lebt in Wiedikon.</p>

Der ehemalige Journalist aus Wallisellen ZH ist seit 2023 Direktor des liberalen Thinktanks Avenir Suisse. Müller studierte VWL in St. Gallen. Er ist Kolumnist für die «NZZ am Sonntag» und lehrt an der Uni Zürich. Der 42-Jährige fährt gerne Velo und lebt in Wiedikon.

Nik Hunger

Von allen Institutionen kommt die AHV bei Ihnen am schlechtesten weg. Wieso?

Die AHV ist fragil, weil sie ein starres System ist. Die Lebenserwartung ändert sich, deshalb bräuchten wir auch ein flexibles Rentenalter.

Also: Die direkte Demokratie ist überfordert. Föderalismus, Milizsystem und AHV bröckeln. Die Credit Suisse kollabierte, die USA demütigen uns mit Horrorzöllen. Ist die Zeit der Antifragilität vorbei?

Nein. In der Innenpolitik haben wir es selbst in der Hand, ob wir unsere Erfolgsrezepte an die Gegenwart anpassen. Doch im Moment scheinen mir die Schweiz und generell der Westen in einer Art spirituellen Krise zu stecken – der Gemeinsinn ist unter Druck. Vielen fehlt eine Antwort auf die Frage: Wer bin ich als Teil dieser Gesellschaft? In der Aussenpolitik hingegen wirken ganz andere Kräfte.

Wir müssen nehmen, was wir kriegen?

Zwischen den Staaten herrscht das Recht des Stärkeren. Und auf dem geopolitischen Parkett sind wir keine Grossmacht.

Obwohl wir angeblich antifragiler sind als alle anderen?

Wir haben schon Trümpfe und können unser wirtschaftliches Gewicht geschickt ausspielen. Aber die USA sind nun mal die Nummer eins, wir sind ein Kleinstaat. Mal sehen, was für ein Deal am Ende wirklich herauskommt. Verhindern wir Schlimmeres, würde das wieder für unsere Antifragilität sprechen (schmunzelt).

Eine Errungenschaft, um welche die USA uns wohl beneiden, ist die Berufslehre. Auch sie ist gemäss Ihrem Buch ein Erfolgsfaktor. Doch heutzutage bricht ein Viertel der Lehrlinge die Ausbildung ab.

Unser duales Bildungssystem ist ein Erfolgsmodell und wird es auch künftig sein. Es hält die Jugendarbeitslosigkeit tief, und es fördert die soziale Durchlässigkeit. Sergio Ermotti, Chef der UBS, hat seine Karriere als Lehrling gestartet.

Zugewanderte sehen den Sinn hinter der Lehre oft nicht. Expats wollen unbedingt, dass ihre Kinder studieren.

Kommt ein Viertel der Wohnbevölkerung aus dem Ausland, muss man sie erst einmal von unserem System überzeugen. Bei den Akademikern stieg die Arbeitslosigkeit jüngst, während sie bei jenen mit Berufsbildung eher sank. Dennoch: Migration macht die Schweiz antifragil.

Wieso?

Migration geht einher mit Offenheit für neue Ideen, Kulturen und Sichtweisen. Diese neuen Faktoren stören das etablierte System – was es als Ganzes wiederum stabiler macht. Viele unserer grossen Unternehmen wurden von Einwanderern gegründet, denken Sie nur an Nicolas Hayek.

Nicht jeder Zuwanderer ist Nicolas Hayek. Wie viel Migration verträgt das Schweizer Erfolgsmodell?

Es gibt ganz klar Schattenseiten der Migration, die man angehen muss. Antifragilität bedeutet übrigens nicht: maximaler Stress für alle. Es ist keine Sauna bei 180 Grad.

Wie heiss halten Sie es in der Sauna aus?

90 Grad. Aber zurück zur Migration: Wirds bei der Infrastruktur oder den Wohnungen knapp, muss man Gegensteuer geben. Aber ganz ohne Migration wären wir definitiv nicht antifragil.

Im Buch steht auch: Verletzlichkeit macht antifragil. Wo sind Sie verletzlich?

Wie jeder andere auch, im Privatleben.

Also hat das nichts mit Politik zu tun?

Doch. Wer glaubt, nicht verletzlich zu sein, identifiziert sich häufig unglaublich stark mit einer Sache – mit einer Partei oder einem Rollenbild. Das ist gefährlich, so erstarren politische Positionen.

Genau das passiert doch gerade, unsere Gesellschaft wird immer polarisierter.

Deshalb muss jeder Einzelne Gegensteuer geben. Das heisst: mit Leuten diskutieren, die andere Ansichten haben. Den Kumpel anrufen, der politisch abgedriftet ist. Sich politisch engagieren oder in einem Verein Verantwortung übernehmen. Diese Arbeit können wir nicht abschieben. Für das Erfolgsmodell Schweiz braucht es uns alle.

Lynn Scheurer von Schweizer Illustrierte
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Text: Lynn Scheurer vor 10 Stunden