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  4. Paavo Järvi: Estlands Weltklassedirigent bringt frischen Wind nach Zürich
Zu Besuch bei Stardirigent Paavo Järvi

«Klassische Musik ist kein Fast Food»

Als Music Director hat er mit spektakulären Klassik-Interpretationen das Tonhalle-Orchester Zürich neu auf der Weltkarte positioniert. Der estnische Weltklassedirigent Paavo Järvi hat noch viel mehr Pläne für Zürich.

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<p>Paavo Järvi beim Proben von neuen Werken in der Tonhalle Zürich.</p>

Paavo Järvi beim Proben von neuen Werken in der Tonhalle Zürich.

Geri Born

Für einen Stardirigenten von Weltruf wie er ist sein «Kabäuschen» im Erdgeschoss der Zürcher Tonhalle ziemlich spartanisch eingerichtet: ein Holztisch, zwei Stühle, ein Sofa, ein Bücherregal und ein Klavier auf Rollen, wie man es sonst aus Kirchgemeindehäusern kennt. Doch Paavo Järvi (62), ist zufrieden mit seinem Rückzugsort. Denn bevor er 2019 beim Tonhalle-Orchester Zürich als Music Director anfing, gab's diesen nicht. Das «Dirigentenzimmer» ist die unauffälligste Innovation, die der Maestro aus Estland bei Zürichs traditionsreicher Musikinstitution mit ihrem exzellenten Orchester initiierte.

<p>Hinter der Glastür der Tonhalle tut sich Paavo Järvis Klassik-Wunderwelt auf.</p>

Hinter der Glastür der Tonhalle tut sich Paavo Järvis Klassik-Wunderwelt auf.

Geri Born

Viel wichtiger ist der musikalisch frische Wind, mit dem Paavo Järvi das Tonhalle-Orchester und Zürich als Klassikmetropole neu auf der Weltkarte positioniert hat. Seine Aufnahmen der Sinfonien 7, 8 und 9 von Anton Bruckner wurden letztes Jahr mit dem International Classical Music Award (ICMA) ausgezeichnet. Und sein Mendelssohn-Zyklus erhielt 2024 den renommierten Presto Award. Er selbst hat in seiner über 40-jährigen etappenreichen Weltkarriere etliche weitere Ehrungen erhalten, darunter 2003 einen Grammy für die Einspielung der Sibelius-Kantaten mit dem Estonian National Symphony Orchestra.

Bei Leonard Bernstein studiert

Der stille, aber sympathische Balte ist aber kein Trophäenjäger. «In der klassischen Musik geht es darum, die Dinge auf einer tieferen Ebene zu verstehen», sagt Paavo Järvi. «Sie ist kein Fast Food oder Showbusiness, wo du auf Anhieb siehst, was du bekommst. Es geht um viel mehr als das. Eine 80-minütige Sinfonie von Mahler ist eine Reise, auf der sich eine Geschichte abspielt. Musik als Kunst muss zum Nachdenken anregen, sich mit wichtigen Themen in der Gesellschaft auseinandersetzen – und ja: manchmal auch unbequem sein und wütend machen.»

<p>In der Küche seines Appartements im Herzen von Zürich geniesst Paavo Järvi einen seltenen Augenblick der Entspannung.</p>

In der Küche seines Appartements im Herzen von Zürich geniesst Paavo Järvi einen seltenen Augenblick der Entspannung.

Geri Born

Zu diesem umfassenden Musikverständnis hat ihn Leonard Bernstein (1918–1990) inspiriert, einer der bedeutendsten Pianisten, Dirigenten, Pädagogen und Komponisten des 20. Jahrhunderts, der unter anderem «West Side Story» geschrieben hat. Als 22-Jähriger studiert Järvi an dessen Los Angeles Philharmonic Institute, nachdem seine Familie 1980 aus ihrer Heimat Estland – damals noch Teil der Sowjetunion – nach Amerika ausgewandert war.

Paavos Vater Neeme Järvi sind zu jener Zeit Auslandreisen aus der stark isolierten UdSSR erlaubt, denn auch er ist ein bedeutender Dirigent, der im Westen gefeiert wird. An seine Jugend hinter dem Eisernen Vorhang erinnert sich Paavo Järvi noch gut. «Die mentale Kontrolle des Regimes über die Menschen versetzte die Gesellschaft in einen Dauerstress», erzählt er. «Unter Stress zeigen sich das Beste und das Schlechteste des Menschen: Es gibt Rebellen, die für ihre Würde kämpfen. Und es gibt Opportunisten, die ihre Seele verkaufen, um Vorteile zu erlangen.»

<p>Järvi bei Tonhalle Late: Nach einem Klassikkonzert mit dem Tonhalle-Orchester Zürich gehts weiter mit DJs und Partysound.</p>

Järvi bei Tonhalle Late: Nach einem Klassikkonzert mit dem Tonhalle-Orchester Zürich gehts weiter mit DJs und Partysound.

Geri Born

Der junge Paavo ist rebellisch, weshalb er sich auch als Schlagzeuger einer Rockband engagiert. Bis heute ist ihm die politische Wachsamkeit geblieben – daher sorgt er sich auch um die aktuelle politische Lage in den USA, die er vom Studium, vielen Engagements und seiner über zehnjährigen Tätigkeit als Chefdirigent des Cincinnati Symphony Orchestra bestens kennt. «Im Moment erinnert mich alles an die McCarthy-Ära der frühen 1950er, in der Verschwörungstheorien und Denunziationen das politische Klima bestimmten», sagt er. «Dass Trump die Leitung des renommierten Kennedy Centers in Washington übernommen hat, ist ein Affront.»

Zürich wieder sexy machen

In der Küche seines Appartements im Herzen von Zürich, drei Gehminuten von der Tonhalle entfernt, macht sich Järvi einen Kaffee. Dazu nascht er ein paar Heidelbeeren, die ihn an seine Heimat erinnern. «Ich liebe Zürich, die Tonhalle und das Tonhalle-Orchester», sagt er. «Nachdem ich hier das erste Konzert dirigiert hatte, dachte ich: Die Chemie stimmt, hier würde ich gern bleiben. Dann hat man mich tatsächlich angefragt, worüber ich sehr glücklich bin. Denn das Orchester ist Weltklasse, und die Tonhalle gehört zu den akustisch besten Sälen der Welt. Und welches andere Konzerthaus kann schon von sich behaupten, dass es von Johannes Brahms als Dirigent eingeweiht wurde?»

<p>Am 13. und 14. Juni sind Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich gratis live zu erleben – am Tonhalle Air auf dem Münsterhof.</p>

Am 13. und 14. Juni sind Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich gratis live zu erleben – am Tonhalle Air auf dem Münsterhof.

Geri Born

So sehr ihn Geschichte fasziniert und so intensiv er sich für die Musik in sie vertieft: Paavo Järvi ist ein Mann der Gegenwart mit neugierigem Blick auf die Zukunft. «Meine zwei Töchter – die eine ist 18 und studiert in New York Kunst, die andere ist 21 und studiert Psychologie in London – erweitern meinen Horizont mit Dingen, von denen ich keine Ahnung habe, zum Beispiel Rapper aus Estland.» Ob er Stress, den Schweizer Rapper mit estnischen Wurzeln, kennt? «Ja, er kommt manchmal zu unseren Konzerten», so Järvi. Auch mit DJs arbeitet der Maestro im Format Tonhalle Late zusammen.

Eine Herzensangelegenheit ist ihm seine Conductors’ Academy, in der er jungen Talenten das Dirigieren beibringt. «Ein Dirigent ist ein Führer zwischen Orchester und Publikum», sagt Järvi. «Er leitet beide zu den Schlüsselstellen, wo wichtige Dinge passieren. Gleichzeitig ist er aber auch Schauspieler und Regisseur – wie Woody Allen in seinen Filmen. Und er ist Manager: Bei komplexen Werken sorgt er dafür, dass Ordnung herrscht und die einzelnen Teile des Orchesters gut miteinander funktionieren.»

<p>Neue Stars entdecken und fördern ist Paavo Järvis Passion – hier mit dem isländischen Starpianisten Víkingur Ólafsson.</p>

Neue Stars entdecken und fördern ist Paavo Järvis Passion – hier mit dem isländischen Starpianisten Víkingur Ólafsson.

Geri Born

All das tut Järvi, wenn er in Zürich ist, jeden Tag mit dem Tonhalle-Orchester, geht mit ihm auf Tournee in die bedeutendsten Konzerthäuser und nimmt mit ihm neues Repertoire auf. Er will dabei auch unbekannte Werke promoten – zum Beispiel die seines Landsmanns Arvo Pärt. Und er freut sich, in Zürich ein Publikum zu haben, das diese Musik offen rezipiert. «Denkt man an Zürich, fallen einem meistens die Banken und der Luxus der Bahnhofstrasse ein – nicht wirklich sexy», sagt Paavo Järvi. «Dabei gibt es hier ein so grosses kulturelles Erbe zu entdecken, aus dem viele neue spannende Dinge entstehen. Mein Ziel ist es, Zürich damit wieder sexy zu machen.»

Von Zeno van Essel am 4. Mai 2025 - 12:00 Uhr