Sie sieht bis wenige Meter vor dem Ziel wie die sichere Siegerin aus. Auf der Tribüne reissen ihre Eltern schon die Arme hoch, dem Schweizer Fernsehkommentator überschlägt es die Stim-me. Die 30-jährige Bernerin Mujinga Kambundji läuft im Olympiastadion von München einem sporthistorischen Triumph entgegen. EM-Gold im 100-Meter-Sprint! Doch mit dem letz-ten Wimpernschlag platzt der grosse Traum. Die Deutsche Gina Lückenkemper wirft sich mit schierer Ver- zweiflung über die Ziellinie, sorgt für ein Finale, wie es selbst im Millimeter- geschäft des Sprints selten vorkommt. Die Uhr zeigt für sie die exakt gleiche Zeit an wie für Kambundji: 10,99 Sekunden.
Doch in diesem Fall werden die Tausendstelsekunden beigezogen – und die sprechen um fünf Einheiten für die Deutsche. Kambundji starrt ins Leere, scheint zwischen Himmel und Hölle gefangen, fasst ihre Enttäuschung in nicht druckreife Worte. Dann fügt sie an: «Es ist okay, ich habe eine Medaille gewonnen. Ich könnte auch ohne dastehen. Deshalb muss ich zufrieden sein.»
Sie darf vor allem auch stolz sein. Für Mujinga Kambundji ist die Silbermedaille ein weiterer Beweis, dass sie zur Topklasse der globalen Sprint- szene gehört. Es ist bereits ihre sechste internationale Medaille, aber Gold lag noch nie so nah. Und dass im ersten Moment der Frust überwiegt, zeigt vor allem etwas: Die schnellste Bernerin der Welt ist eine Sportlerin, die keine Halbheiten und Ausreden duldet. Sie will immer gewinnen.
Kurz zuvor hat ein anderer Schweizer im Münchner Olympiastadion vor 40 000 Zuschauern für magische Momente gesorgt – Simon Ehammer, das phänomenale Multitalent aus dem Appenzell. Nach acht von zehn Disziplinen führte er den Zehnkampf überlegen an. Doch dann kam ihm im Speerwerfen ein Fabelwurf des Deutschen Niklas Kaul in die Quere. Und im abschliessenden 1500-Meter- Lauf war Ehammers Energietank leer.
Nach WM-Silber in der Halle und WM-Bronze im Weitsprung ist die Silbermedaille von München für ihn wie der Ritterschlag. Entsprechend war er mit sich im Reinen: «Ich hege keinen Groll wegen des verspielten Vorsprungs. Und im 1500er zeigte ich, dass ich auch kämpfen kann.» Dass er den eigenen Schweizer Rekord auf beeindruckende 8468 Punkte verbes- serte, steht für einen Wettkampf, in dem vieles nach Plan lief. Auch wenn Ehammer bilanziert: «Es macht Freude, dass ich praktisch in jeder Disziplin noch Steigerungspotenzial besitze.»
Die Schweizer Leichtathletik macht in München Werbung in eigener Sache. Von den Kommentatoren und Experten bei ARD und ZDF gibts viel Lob für das erfolgreiche «helvetische System», das so viele starke Leistungs- träger hervorbringt. Aber nun waren es ausgerechnet zwei Deutsche, die dem Schweizer Duo das Gold entrissen.
Trotzdem dürfen sich die Ausnah- mepersönlichkeiten Kambundji und Ehammer als Sieger fühlen. Zwar schrammten sie letztlich haarscharf an der finalen Krönung vorbei, doch haben sie sich in einer Sportart, die auf allen Kontinenten und in über 200 Ländern betrieben wird, an der Spitze etabliert. Und sie nehmen eine für den Nachwuchs entscheidende Vorbildfunktion ein und helfen so mit, die Basis für die Zukunft zu verbreitern.
Mujinga Kambundji und Simon Ehammer bilden die Spitze einer Pyramide, deren Entstehung bis vor Kurzem niemand für möglich gehalten hätte: die neue Kampfkraft der Schweizer Leichtathletik. Jahrzehntelang lebte diese von Ausnahmekönnern wie Meta Antenen, Markus Ryffel, Werner Günthör, André Bucher und Viktor Röthlin. Dann kamen die Europameisterschaften 2014 in Zürich – und vieles geriet besser, erfolgreicher.
«Im 1500-Meter-Lauf zeigte ich, dass ich auch kämpfen kann»
Simon Ehammer
Nach dem bemerkenswerten Abschneiden der Schweizer Delegation an den Weltmeisterschaften in Eugene (USA) von diesem Sommer stellte der französische Verbandspräsident fest: «Wir sollten mehr auf die Schweiz schauen.» Am Ursprung des Schweizer Leichtathletik-Wunders steht vor allem ein Name: Patrick Magyar. Der frühere Direktor des Meetings Weltklasse Zürich krempelte den Schweizer Leichtathletik-Verband um, verbesserte die Struktur in der Nachwuchsarbeit und holte die Europameisterschaft 2014 nach Zürich, die der ganzen Szene einen enormen Impuls verlieh.
Auch war der initiative und innovative Macher die treibende Kraft hin- ter dem UBS Kids Cup, dem landesweiten Nachwuchswettbewerb, der schon Hunderttausende Kinder und Jugendliche vereinte, den grossen Sport auch in die kleinen Dörfer holt und praktisch für alle aktuellen Spitzenleute den Startschuss ihrer internationalen Karriere bedeutete.
Athletinnen wie Mujinga Kambundji, die Ex-Europameisterin Lea Sprunger und die Mitglieder der Frauen- Sprintstaffel zeigten, dass auch Schweizerinnen und Schweizer an der Welt- spitze mithalten können. Heute trainieren Nachwuchs und Elite in vielen kleinen Zellen, und die Trainer wachsen mit ihnen, bilden sich weiter und pflegen untereinander Kontakt.
Mit anderen Worten: Die Momentaufnahme der Schweizer Leichtathletik erstrahlt an den Europameisterschaften in München im silbernen Glanz. Doch die Zukunft verspricht goldene Zeiten.