Der Blick geht ins Leere, die Bewegungen wirken steif, die Gesichter ausdruckslos. Fahle Farben, in einer Ecke oft eine leere PET-Flasche, irgendwo steht ein Glas, ein Spiegel. Und über allem liegt ein leichter Schleier.
Düstere Bilder, aber die Walliser Künstlerin Louisa Gagliardi (36) ist ein leuchtender Stern am internationalen Kunsthimmel. Ihre Werke sind gross, vom Format und vom Wert her, sie erzielen mittlerweile sechsstellige Summen. Das renommierte Kunstmuseum Masi in Lugano widmete ihr diesen Sommer eine Einzelausstellung, die den Namen «Many Moons» trug – viele Monde.
Der Titel des Bildes «Cats and Dogs» zitiert eine englische Redewendung für heftigen Regen. Lichtblick: die Pupillen aus Blattgold.
Nicolas RighettiDie renommiertesten Galerien zeigen Gagliardis Werke: Rodolphe Janssen, Dawid Radziszewski und Eva Presenhuber, sie gilt als Königsmacherin der Kunstbranche. Aktuell sind die neusten Bilder von Louisa Gagliardi in Paris zu sehen, in der Galerie 75 Faubourg. Eine Top-Adresse, Domizil von Haut-Couture-Häusern, Botschaften und Fünfsternehotels.
Es ist also ernst mit der internationalen Kariere. «Ist sie der nächste grosse Name?», fragte der «Tages-Anzeiger» im Mai in einem Porträt. Das US-Magazin «Forbes» bezeichnete Louisa Gagliardi gar als «digitalen Dalí». Sie selber nennt ihre Bilder augenzwinkernd «Rorschachtest» – jeder könne sich seine eigene Interpretation zusammenreimen.
Keine Kritik, Ausdruck von Ängsten
Louisa Gagliardi versteht ihre Arbeiten nicht als Kritik an irgendetwas, sondern als Ausdruck von Unbehagen. Auf den ersten Blick wirkt auch die Künstlerin etwas distanziert: tadelloser Chignon, avantgardistisches Outfit in Schwarz und Weiss. Das täuscht. Sie ist ausgesprochen freundlich, lebhaft und zugänglich. Sie lächelt oft und hat nichts vom zuweilen affektierten Kunstgetue an sich.
Freut sich, weil ihr der Wirt grad ofenfrische Madeleines neben den Kaffee stellte: Louisa Gagliardi in einem Bistrot in Paris.
Nicolas RighettiWarum also so düstere Bilder, wieso diese Endzeitstimmung? «In meinen Bildern lebe ich wohl meine dunkle Seite aus, setze mich mit meinen Abgründen und Ängsten auseinander», sagt sie. Wie die meisten ihrer Altersgenossen nehme sie mit Beklemmung den Zustand der gegenwärtigen Welt wahr, schaue mit Angst in die Zukunft.
Diese Beunruhigung, findet sie, sei das Lebensgefühl der voyeuristischen, hypervernetzten Online- Generation, die aber jede direkte Interaktion von Mensch zu Mensch scheut. Und sich sogar vor simplem Telefonieren fürchtet. Louisa Gagliardi fängt in ihren Bilder diese Gefühle ein und trifft damit den Nerv der Zeit.
Ihre berufliche Laufbahn beginnt sie mit einem Grafikstudium an der ECAL in Lausanne, das sie 2012 abschliesst. Sie entscheidet sich, Künstlerin zu werden, und zehn Jahre später ist erstmals eines ihrer Bilder an der Art Basel Unlimited zu sehen. Es ist riesig, 3,70 mal 11 Meter gross, Titel «Tête-à-tête» – und es verkauft sich für 200'000 Franken.
Ein Baum – oder nur sein Schatten? Louisa Gagliardi und zwei Helfer installieren das Bild «Common Enemies» (gemeinsame Feinde) in der Galerie in Paris.
Nicolas RighettiAls Zwölfjährige habe ihre Mutter sie das erste Mal an die Art Basel mitgenommen, sagt Louisa Gagliardi. Ihr Erfolg, vermutet sie, habe viel mit ihrem Elternhaus zu tun. «Ich wuchs mit einer Schwester und einem Bruder in Sion auf, in einer sehr kreativen und privilegierten Familie. Meine Mutter war Künstlerin und Psychologin, mein Vater Architekt, meine Gotte Kunsthistorikerin. Wir reisten viel und besuchten Museen.»
Der Erfolg kam langsam, aber stetig
«Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, haben sie mich machen lassen, keinen Druck ausgeübt und meinen Werdegang immer unterstützt.» Auch finanziell. «Aber sie legten Wert auf Eigenverantwortung. Das hiess, sie finanzierten mir einen Teil meines Lebensunterhalts, für den anderen musste ich selber aufkommen. Das hat ganz gut funktioniert.»
Das Werk «Fumoir» spielt mit Farben und – blauem Dunst. Es besteht aus vier Teilen und lässt sich effektvoll zu einer Kabine arrangieren.
Nicolas RighettiDie Anerkennung als Künstlerin sei langsam gewachsen, sagt Gagliardi. «So konnte ich mich quasi langsam daran gewöhnen.» Bescheiden betont sie: «Talent und harte Arbeit reichen nicht, zum Erfolg gehört immer auch eine gute Portion Glück.» Eine Malerin im klassischen Sinne ist sie nicht.
Sie zeichnet Ideen auf Papier, «malt» sie dann am Computer und gibt von Hand das Finish hinzu. Sie bestreicht die Bilder mit Gel, für den nebulösen Touch. Oder fügt verspielte Details hinzu: eine Spiegelung in einer Flugzeugnase, einen grünen, glitzernden Schimmer in den Augen der Autofahrerin – aufgetragen mit Nagellack – oder Pupillen aus Blattgold. «Man soll in meine Gemälde eintauchen können, ein leichtes Gefühl des Unbehagens empfinden und sich ein bisschen fühlen wie ein ungebetener Gast.»
Deutsch ja, Schweizerdeutsch nein
Louisa Gagliardi stammt aus dem französischsprachigen Teil des Wallis. Seit zehn Jahren lebt sie in Zürich, im ruhigen Teil des wilden Kreis 4. Sie liest und schreibt Deutsch, spricht es aber ungern. Die Übung fehlt. In der Kunstwelt kommuniziert man auf Englisch, und seit zwölf Jahren ist sie mit dem US-Amerikaner Adam Cruces (40) verheiratet.
Cruces stammt aus Texas, ist ebenfalls Künstler und beschäftigt sich in seiner Arbeit mit der Interaktion von Mensch und Umwelt. Cruces arbeitet wie Gagliardi in verschiedenen Kunstrichtungen: Malerei, Skulptur oder Videoinstallation. Jedes Jahr besucht das Paar seine Familie in Texas.
Die Walliser Künstlerin auf dem Weg in die Pariser Galerie 75 Faubourg, wo ihre Werke ausgestellt sind.
Nicolas RighettiAber nein, behauptet Gagliardi, einen Cowboyhut besitze sie nicht, auch keine Boots. «Bei uns zu Hause dreht sich alles um Kunst, Kunst und nochmals Kunst. Mein Mann ist auch mein ‹Partner in crime›, wie man so sagt. Meine Resonanzwand. Am Ende eines Arbeitstages frage ich ihn gern nach seiner Meinung.»
Als Künstlerin, sagt Louisa Gagliardi, brauche man jemanden, der den Blick von aussen einbringe und auch mal einen Denkanstoss gebe. Wenn sie stecken bleibe, sagt er manchmal: «Aha, was wäre, wenn …?» Das helfe ihr enorm. «Mein Mann hat grossen Anteil an meinem Erfolg.»
In der Pariser Galerie arrangieren Arbeiter mit äusserster Sorgfalt die Bilder. Louisa Gagliardi packt mit an, gibt mit leiser Stimme Anweisungen. Sie weiss, was sie wo will – und wohin sie will. Vor Erfolg jedenfalls hat sie keine Angst.