Salut, Madeleine, ça va? Keine zwei Minuten kann Madeleine Boll (71) vor der Migros in Sierre stehen, ohne Bekannten zu begegnen. Sie lacht: «Das ist nicht schwierig, es gibt hier nur zwei Hauptstrassen, und ich bin sehr aktiv in Vereinen.» Sie singt im Chor, geht jeden Mittwoch mit zehn Freundinnen wandern, betreut den Langlaufklub, engagierte sich in Fussballkomitees und der lokalen Politik. Ihr Lieblingsthema einst und heute: die Anerkennung des Frauenfussballs. «Da sind die Medien in der Pflicht», sagt sie. «Je mehr Matches übertragen werden, desto grösser die Akzeptanz.»
Ihr zu Ehren heisst das Maskottchen der Frauen-EM 2025, die am 2. Juli beginnt, Maddli. «Das ist eine ganz grosse Ehre. Ich bin sehr, sehr stolz», freut sie sich. Boll spricht schnell, fast hektisch und sehr leise. Ihr Stimme hat gelitten. Als Zeitzeugin gibt sie vor der Frauen-EM, der W-EM, unzählige Interviews, erklärt x-mal, wie es kam, dass sie 1965 als erste Schweizerin eine Fussball-Lizenz erhielt. Die ihr umgehend entzogen wurde, als die Verantwortlichen merkten, dass Madeleine ein Frauenname und sie weiblich ist. «Da hatte einer nicht aufgepasst», kommentiert sie, «wahrscheinlich ist ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass ein Mädchen eine Lizenz beantragen könnte.» Die brauchte sie aber, um mit den Buben im Parc des Sports in Sion zu spielen, vor dem legendären Europacup-Spiel gegen Galatasaray Istanbul, das der FC Sion 5:1 gewann.
Das offizielle Maskottchen der W-Euro 2025 heisst Maddli – zu Ehren von Madeleine Boll.
keystone-sda.chAuffällig gross – aber weiblich
Das Spiel verfolgten auf der Tribüne Journalisten und Fussballfunktionäre. Einer davon, der Lausanner Norbert Eschmann (1933-2009), ehemaliger Fussballer und Sportreporter, sagte: «Der Grosse da mit den langen Haaren ist der beste Spieler auf dem Platz» – und erntete schallendes Gelächter: «C’est une fille, das ist ein Mädchen!» Die 14-Jährige fiel auch der Presse auf. Weltweit wurde über den «weiblichen Pelé» berichtet. «Footballeuse» sei sie in einer Schweizer Zeitung genannt worden, meint Boll und guckt vielsagend, «in Anführungszeichen, als wäre ich keine richtige Spielerin».
Madeleine Boll 1965 als Zwölfjährige im Training beim FC Sion. Dort spielte sie mit den Buben.
Getty ImagesMadeleine Boll ist mit zwei Geschwistern fünf Autominuten von Sierre entfernt in Granges aufgewachsen, in einem Haus, das an den Zweitliga-Fussballplatz grenzt. Am 3. Mai dieses Jahres wurde er ihr zu Ehren in «Terrain de Football Madeleine Boll» umbenannt. «Ça fait plaisir, bien sûr», sagt Madeleine Boll bescheiden, aber mit Stolz im Lächeln.
«Ich wollte doch immer nur Fussball spielen. Schon als Kleinkind war kein Ball vor mir sicher.» Als Zwölfjährige erfasst sie das Fussballfieber. Ein Schulkamerad schwärmt von seinem Training beim FC Sion. Madeleine möchte – und darf – mitmachen. «Es war toll», erinnert sie sich, «der Trainer bat mich einzig, künftig nicht mehr im Faltenjupe, sondern in kurzen Hosen zu kommen.» Boll lernt rasch und ist schnell richtig gut.
Aufgeschreckt durch das Echo nach dem Spiel im Parc des Sports, bemerkt der Fussballverband seinen «Fehler» und entzieht Boll die Lizenz. Begründung: die Statuten und medizinische Bedenken. Fussball? Viel zu gefährlich für Frauen. Und ungesund. Boll ist empört. Sie reklamiert: «Statuten kann man schliesslich anpassen.» Statt einzulenken, schenkt ihr der Verband eine Plakette mit ihrem Namen. Aufhören ist für Madeleine Boll dennoch keine Option.
«Footballeuse» in Anführungszeichen ärgerte Madeleine Boll masslos. «Als wäre ich keine richtige Spielerin.»
GABRIEL MONNETProgressives Wallis
Gut so, denn bald wird ein Klub in Mailand auf sie aufmerksam. Knapp 17-jährig, fährt sie jedes Wochenende mit dem Zug nach Italien und spielt dort in der Serie A der Frauen – fünf Jahre lang. «Es heisst immer, das Wallis sei stockkonservativ», sagt sie, «aber weder der Trainer noch meine Eltern waren dagegen, dass ich Fussball spielte. Im Gegenteil, einem so jungen Mädchen zu erlauben, allein nach Italien zu fahren, ist heute noch nicht überall selbstverständlich.»
Ab 1972 gibt es offiziell eine Schweizer Nationalmannschaft der Frauen. Mit ihr bestreitet Boll 14 Länderspiele. Das letzte am 20. Mai 1978 in Belgien. Nach der 0:2-Niederlage bittet sie den Schiedsrichter, den Ball als Erinnerung behalten zu dürfen. Er lehnt ab. Kurz darauf hängt Madeleine Boll die Fussballschuhe definitiv an den Nagel. Es folgt, was sie 20 Jahre Stille nennt: «Ich musste an meine Zukunft denken.» Sie hat ein Diplom als Trainerin, doch Geld lässt sich mit Fussball kaum verdienen, schon gar nicht als Frau. Also macht sie die Ausbildung zur Sozialarbeiterin und arbeitet bei Pro Senectute und Alusuisse. «In meiner Aktivzeit stand ich an Wochenenden immer irgendwo auf einem Fussballplatz», sagt sie, «für Privates blieb kaum Zeit.»
Wollte immer nur eines: tschutten! Dafür pendelt Boll jahrelang jedes Wochenende von Sion nach Mailand.
GABRIEL MONNETLos lässt Madeleine Boll das Fussballfieber nie. Noch immer reist sie an EMs und WMs, und wenn ihr ein Ball vor die Füsse rollt, kann sie dem Drang zu dribbeln nicht widerstehen, wohnt heute zwischen Sierre und Granges und freut sich nun auf die W-EM. Speziell auf die Spiele im Stade de Tourbillon in Sion. «Es ist sensationell für das Wallis, dass die EM hierherkommt, meine Freude ist riesig.» Und erst recht macht es sie stolz, dass mit Iman Beney (18) und Naomi Luyet (19) gleich zwei Walliserinnen in der Nati spielen.