Das Schachbrett ist jener Ort, wo der König nicht so viel macht. Er kann nur jeweils ein Feld weiterziehen. Das ist in der Politik schon etwas anders», sagt der Ex-Grünen-Chef Balthasar Glättli (53) schmunzelnd. «Dafür ist die Königin die stärkste Figur», sagt Petra Gössi (49) und nimmt auf dem Schachfeld auf der Bundesterrasse in Bern die übergrosse Spielfigur unter den Arm. Als Kind habe sie von ihrem Götti einen Schachcomputer geschenkt bekommen. «Leider komme ich nicht oft dazu – obwohl ich heute wieder mehr Freizeit habe», sagt die ehemalige Präsidentin der FDP und heutige Schwyzer Ständerätin. Der Zürcher Nationalrat nickt: «Geht mir ähnlich. Ich müsste es unbedingt meiner Tochter beibringen.»
Petra Gössi, wie froh sind Sie, nicht mehr Parteichefin zu sein?
Petra Gössi: An den Wochenenden sehr. Damals sahen die so aus: Von Donnerstag bis Samstag tauschte ich mich mit der Sonntagspresse aus, weil dann bekannt war, welche Geschichten sie vorantreiben. Ich versuchte, Hintergrundinformationen zu geben und meine Position zu erläutern. Nachts oder am frühen Sonntagmorgen, wenn die Geschichten online aufgeschaltet wurden, las ich diese. Und spätestens ab 13 Uhr riefen mich die Journalisten für eine Stellungnahme für die Montagsausgabe an.
Balthasar Glättli: Nachdem ich den Stab an meine Nachfolgerin Lisa Mazzone übergeben durfte, ging ich am Sonntag mit meiner Frau Min Li und meiner Tochter Ziva nach draussen und liess das Handy bewusst daheim. Als Parteipräsident musste ich mich jeweils um sechs Uhr morgens informieren und die Bälle in der Partei verteilen. Aber es gibt auch Momente, in denen ich den Einfluss dieses Amtes vermisse. Etwa wenn bei einer Debatte ein anderer Parteichef eine Seite in einer Zeitung bekommt. Früher nahm ich das Telefon in die Hand und forderte ebenfalls eine Plattform.
Gössi: Klar, ich vermisse auch manchmal das Gestalten oder rege mich auf, wenn die Partei ein Thema nicht stärker gewichtet. Aber das gehört zum Aufhören – man muss sich zurücknehmen.
Heute sind die Parteien froh, wenn sich überhaupt jemand für das Parteipräsidium zur Verfügung stellt. Bei der Mitte gab es mit Philipp Matthias Bregy nur einen Kandidaten, und auch bei der FDP kandidieren mit Susanne Vincenz-Stauffacher und Benjamin Mühlemann nur zwei Personen – allerdings als Doppelspitze. Ist das Amt so schrecklich?
Gössi: Für Leute, die aus dem Berufsleben kommen, ist es unattraktiv, eine Partei zu führen: Bei den meisten Parteien verdienen sie viel weniger als in einer mittleren Führungsposition in einem grossen Unternehmen, tragen aber massiv mehr Verantwortung. Gleichzeitig ist man als Parteichefin an allem schuld. Und auch für die internen Querelen muss man den «Grind anehebe». Hinzu kommt der Druck von aussen, immer verfügbar zu sein. Ich habe stets versucht, neben dem Amt meinen Beruf auszuüben. Das ist ohne Unterstützung fast nicht möglich.
Glättli: Es ist ein ganz anderes Führen als in der Privatwirtschaft. Ein CEO einer börsenkotierten Unternehmung muss zweimal im Jahr seine Halbjahresbilanz präsentieren, hat ein ganzes Heer von PR-Beratern, die sagen, welche Fragen die Presse stellen darf und welche nicht. Wir Parteipräsidentinnen und -präsidenten sind immer auf Deck, oft allein.
Die Juristin war von 2016 bis 2021 Präsidentin der FDP. Ihre umweltfreundlichere Linie sorgte intern für Kritik. Nach ihrem Rücktritt konzentrierte sie sich auf ihren Job als Steuer- und Unternehmensberaterin. Seit 2013 sitzt die Schwyzerin im Ständerat. Sie wohnt in Küssnacht SZ und ist mit Psychiater Joe Hättenschwiler liiert.
Fabienne BühlerIst es ein einsamer Job?
Glättli: Am Wochenende schon ziemlich. Aber ich hatte mit Florian Irminger einen super Generalsekretär, den ich selber aussuchen konnte. Eine Art Bromance (lacht).
Gössi: An der Spitze ist es immer einsam, aber das Generalsekretariat ist unglaublich wichtig. Wenn diese Beziehung nicht geigt, hat man keine Chance.
Glättli: Es muss aber jemand sein, der nicht nur nickt. Als Demokrat sollte ich immer davon ausgehen, dass ich manchmal unrecht habe. Auch wenn ich das nicht gern sage. (Gössi schmunzelt.)
Frau Gössi hat den Lohn angesprochen. Wie viel haben Sie verdient?
Glättli: 28'000 Franken. Diesen Betrag habe ich für meine persönliche Assistentin ausgegeben. Sie koordinierte meine Termine, priorisierte E-Mails.
Gössi: Ich verdiente rund 40'000 Franken. Mit dem Salär für eine Assistentin und weiteren Ausgaben ist das schnell weg.
Müsste man das Amt besser entschädigen?
Gössi: Ich denke, das ist nicht der entscheidende Punkt. Das Ansehen von Politikern ist nicht besonders gross. (Glättli lacht.) Und wenn man dann vor einem Entscheid steht, neben dem Job noch mehr Zeit für die Politik aufzuwenden, braucht es viel Idealismus, um zu sagen: Ich mache das. Darum sind die meisten nicht ewig im Amt. Zu früher gibt es aber einen grossen Unterschied.
Der wäre?
Gössi: Die Medienwelt ist extrem schnell geworden. Früher konnte man in einer Partei diskutieren, bevor etwas am nächsten Morgen in der Zeitung stand. Heute töggelt jeder schnell etwas ins Handy und stellt es ins Netz.
Glättli: Stimmt. Man muss sich oft innerhalb von zehn Minuten für eine Position entscheiden. Sonst kommt man in der Berichterstattung nicht vor. Als Nicht-Regierungspartei müssen die Grünen da wohl noch etwas schneller und prononcierter reagieren. Das ist eine Challenge, die der Qualität nicht nur guttut.
Wie führt man bei all dieser Präsenz überhaupt noch eine Partnerschaft beziehungsweise ist Familienvater?
Gössi: Das private Umfeld braucht alles Verständnis der Welt. Ein Beispiel: Ich gehe mit meinem Partner am Samstagabend essen. Da kommt jemand an den Tisch: «Schön, Frau Gössi, endlich sehe ich Sie mal!» Selbst wenn man die Leute höflich darauf hinweist, dass man privat da ist und nach der E-Mail-Adresse fragt, um sich später auszutauschen, heisst es: «Aber wenn wir uns doch schon sehen!» Ich habe zum Glück keinen Partner, der zu Hause auf mich wartet. Er wohnt in Zürich. Und wenn ich dort mit ihm unterwegs bin, kennen ihn mehr Leute als mich. Das war und ist bis heute ein guter Ausgleich.
Herr Glättli, Ihre Partnerin Min Li Marti ist selbst Politikerin. Half das?
Glättli: Absolut, sie versteht meine Welt. Was das Privatleben und vor allem die Zeit mit meiner Tochter Ziva betrifft, habe ich von Corona profitiert. Statt immer vor Ort zu sein, war ich in meinem Homeoffice etwa mit der St. Galler Sektion im Zoom-Call, dann schaltete ich mich in den Jura und später nach Luzern. Am Abend warteten wir, bis unsere Tochter – sie war zu Beginn meines Präsidiums zwei Jahre alt – schlief, erst dann kochten wir etwas für uns. Ziva hat mich auf den Boden runtergeholt. Neben der Kita war ich einen Tag für sie zuständig, einen Tag meine Partnerin.
Der Zürcher wurde während der Coronapandemie 2020 digital an die Spitze der Grünen gewählt. Der Gründer eines Internet-Beratungsunternehmens kämpfte gegen die Klimaerwärmung. Nach der Wahlschlappe 2023 trat er 2024 zurück. Er ist mit SP-Nationalrätin Min Li Marti verheiratet und hat eine Tochter.
Fabienne BühlerUnd das hielten Sie ein?
Glättli: Ja. Obwohl es bei mir der Mittwoch war, also jener Tag, an dem jeweils die Bundesratssitzungen stattfinden. Da versuchten wir zu antizipieren, was kommt, und bereiteten Zitate vor. Ich musste diese noch kurz anschauen und absegnen. Klar kam es hin und wieder vor, dass die Hüte-Unterstützung Peppa Pig zum Einsatz kam. Wegen einer Viertelstunde habe ich da auch kein schlechtes Gewissen. Ich musste aber lernen: Die Welt kann von jemand anderem als von mir vor dem Untergang gerettet werden (lacht).
Gössi: Was ich bei Medienanfragen schwierig fand: Wenn ich etwa einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin ins Fernsehen schicken wollte, hiess es damals oft: Entweder Sie, oder die FDP findet nicht statt. Aber ich möchte doch noch eine Lanze für den Job brechen!
Nur zu!
Gössi: Neben der Möglichkeit mitzugestalten sind es persönliche Kontakte, die einem viel Energie geben. Darum habe ich die Coronazeit als sehr schwierig empfunden. In den Videokonferenzen spürt man die Leute einfach nicht richtig. Wenn ich aber in einem Saal vor Leuten eine Rede hielt und ich die Energie spürte, war das einmalig. Man lernt auch die Schweiz in ihrer ganzen Breite kennen. Ich habe Ortschaften besucht, die ich sonst nie gesehen hätte.
Glättli: Wenn ich heute in Zürich im Tram hocke, kommen Leute zu mir, schütteln mir die Hand und bedanken sich. In weniger links-grünen Gegenden waren die Reaktionen weniger enthusiastisch.
Gössi: Warst du im Kanton Schwyz? (Schmunzelt.)
Glättli: Nein, in Interlaken, da ist man ja sogar verhüllt ein willkommener Gast. Ich sass da im Kafi, als der Kellner kam und sagte: «Sie haben Mut, dass Sie hierherkommen.» Ich war tatsächlich baff. Aber es war der Anfang eines Gesprächs.
Empfindlich darf man in diesem Amt nicht sein!
Gössi: Nein. Andererseits muss man aufpassen, nicht nur wie Teflon alles an sich abperlen zu lassen. Es gibt auch berechtigte Kritik, mit der man sich auseinandersetzen sollte.
Nach der SP kandidieren bei der FDP nun auch zwei Kandidaten als Doppelspitze. Die Grünen hatten mit Regula Rytz und Adèle Thorens ebenfalls kurz zwei Präsidentinnen. Das Modell der Zukunft?
Glättli: Was die ständige Verfügbarkeit betrifft, ist es sicher eine Lösung. Gerade auch als Familie, die nicht die klassische Rollenverteilung lebt.
Sie sind aber beide allein angetreten?
Glättli: Ich hätte mir das damals mit Lisa Mazzone vorstellen können. Bei ihr stand das familiär nicht zur Debatte. Da gab es schon Stimmen, die ganz grundsätzlich ein Co-Präsidium wollten – doch für mich kam das nicht infrage. Für eine Co-Leitung brauchts dieses tiefe Vertrauen.
Gössi: Ich hätte mir damals ein Co-Präsidium nicht vorstellen können. Eine Entlastung wird es erst, wenn man die Termine aufteilen kann und klar ist, wer was macht. Es bringt nichts, gemeinsam an den gleichen Sitzungen aufzutauchen. Für mich war es in Ordnung, die Verantwortung selber zu tragen. Ich finde es spannend, dass die FDP diesen Weg jetzt auch versucht. Die Zeiten ändern, und die Partei entwickelt sich weiter.
Glättli: Ich lebte die Rolle von 2004 bis 2008 als Co-Parteichef der Grünen im Kanton Zürich zusammen mit Marlies Bänziger. Die ersten drei Monate versuchten die Medien nur herauszufinden, wo wir anderer Meinung sind. Unsere Regel war: Wer das Telefon abnimmt, definiert die Haltung zu einem bestimmten Thema. Danach schickt man der anderen Person ein SMS und sagt, welcher Journalist einen wozu befragt hat – und was unsere Position ist.
Bei der FDP scheint die mögliche Doppelspitze beim Thema Europa nicht in die gleiche Richtung zu gehen.
Gössi: Das gehört dazu. Auch ich war etwa bei der Milchkuh-Initiative anderer Meinung als die Delegierten der Partei, die diese ablehnten. Das war aber kein Problem, weil ich die Positionen transparent gemacht habe. Bei einer Doppelspitze schickt man im Abstimmungskampf jene Person vor, die das Anliegen mit Herzblut vertreten kann.
Teilen die gleiche Erfahrung – und möchten sie nicht missen. «Es war eine Lebensschulung», sagt Petra Gössi.
Fabienne BühlerAls Parteipräsidenten teilt man dasselbe Schicksal. Wie nah waren Sie damals Ihren Kolleginnen und Kollegen?
Gössi: Ich hatte beispielsweise einen guten Austausch mit Albert Rösti. Wenn bei mir etwas total in die Hosen ging, munterte er mich auf und umgekehrt. Es tut gut, wenn es nicht nur aus den eigenen Reihen kommt und von jemandem, der die gleichen Sorgen teilt. Die Zugfahrten mit den Präsidenten an gemeinsame Anlässe waren immer gut, da konnte man auch mal lästern. Und ich habe nie erlebt, dass etwas aus diesen persönlichen Gesprächen öffentlich verwendet wurde.
Glättli: Es kommt sehr stark auf die Person an. Der ehemalige SP-Chef Christian Levrat gab uns immer stark zu verstehen, dass er die Grünen als ziemlich überflüssige Erfindung in der Geschichte sieht. Mit Cédric Wermuth und Mattea Meyer sah das ganz anders aus. Als Konkurrenten haben wir die Klimafonds-Initiative für den Green New Deal sogar zusammen lanciert. Das ist durch das Vertrauensverhältnis entstanden.
Gössi: Als Parteipräsidentin verfolgt man ja auch immer eine Strategie. Durch die Beziehung untereinander kann man eine andere Partei, die eine konträre Position hat, ins Boot holen. Beide können ihre Argumente voll ausspielen – und die Leute vor dem TV freuen sich, wenn es fetzt.
Was brachte Ihnen das Amt persönlich?
Glättli: Ich bin ein Mensch, der gern Sachen lernt, weil es mir schnell langweilig wird. Ich habe im Amt gelernt, immer wieder über mich hinauszuwachsen. Das Präsidium war eine Führungsausbildung par excellence, so viele MBA könnte ich gar nicht machen. Heute kenne ich meine Stärken und meine Schwächen viel besser und weiss, wie ich sie ausgleichen kann.
Gössi: Ich habe gelernt, aufzustehen und Verantwortung zu übernehmen, wenn etwas in die Hosen geht. Ich wurde noch entscheidungsfreudiger und kann heute noch besser in Szenarien denken und in Strategien arbeiten. Damit wären wir wieder zurück beim Schach (schmunzelt).