Ein Leben für die Leichtathletik. Seit über 60 Jahren sprintet Margaritha Dähler-Stettler über die Tartanbahnen der Welt. Als die Berner Seniorin mit dem Training beginnt, ist sie 17-jährig. Der Sport steckt in den Kinderschuhen – Wettkämpfe für Frauen sind rar. Sie hat jede Veränderung mitgemacht, jede Errungenschaft der Frauen im Sport gefeiert.
Jetzt sitzt sie entspannt in ihrem Schrebergarten im Berner Weissenstein-Quartier, soeben hat sie mit Enkelsohn Nicolas (5) ein Bäumchen gepflanzt. Die Medaillen, die sie im März an der Masters-Hallen-WM in Florida abgeräumt hat, liegen ausgebreitet auf dem Tischchen. «Am meisten bedeutet mir die Silbermedaille im Hammerwerfen», erzählt sie. «Denn ich konnte endlich zeigen, was ich draufhabe.» In den Wurfdisziplinen sei die Konkurrenz auch in der Kategorie der 75- bis 80-Jährigen gross. Ein Jahr zuvor verpasste Margaritha Dähler-Stettler die Finalqualifikation. «Ich habe die Kugel einmal links und einmal rechts ins Netz geschmettert.» Sie lacht. «Da hatte ich ein schlechtes Gewissen meinem Trainer gegenüber – immerhin nimmt er sich für mich genauso viel Zeit wie für die Jungen.»
Die 77-Jährige im Häuschen ihres Schrebergartens in Bern. «Einmal bin ich fast rausgeflogen, weil ich nicht gejätet habe.»
Marion BernetDie Seniorin hat keine Ahnung, wie viele Medaillen sie in all den Jahren gewonnen hat. Angefangen hat sie damals als Sprinterin. «Eigentlich wäre mein Körper für die Mittelstrecken ideal gewesen», blickt die 77-Jährige zurück. Damals habe es die 400-Meter-Distanz nicht gegeben. «Die 800 Meter gab es. 1964 fanden die Schweizer Meisterschaften während der Expo in Lausanne statt. Leider liessen mich meine Trainer nicht mitmachen. Wahrscheinlich wäre ich Zweite geworden.» Sie wirkt nachdenklich. «Ich bin einfach in der falschen Zeit geboren.» Als 18-Jährige wird sie Junioren-Schweizer-Meisterin über 200 Meter. Sie findet ihr Lachen wieder: «Meine Tochter war schon mit zwölf schneller als ich zu diesem Zeitpunkt.»
Später wird Dähler-Stettler Trainerin, führt selber junge Talente an die Leichtathletik heran. Zu ihren bekannten Schützlingen gehört etwa Anita Weyermann (47) spätere EM- und WM-Medaillengewinnerin. «Ich erinnere mich gut an sie. Sie kam ins Training und wollte gleich beim schnellsten Bärner Meitschi mitmachen.» Zum nächsten Training sei Weyermann dann mit Gips am Arm erschienen. «Und bat mich darum, sie zum 1000-Meter-Lauf umzumelden. Dort ist sie dann gerannt wie ein sturmes Huhn, mit einem Arm im Gips. Und hat gewonnen.» Dähler-Stettler lacht. «Sie hätte selbst im Gefängnis einen Weg gefunden, sich zu bewegen.»
Enkelsohn Nicolas wird bald fünf und darf dann offiziell einem Fussballverein beitreten. Darauf freut er sich am meisten.
Marion BernetFamilie ist stolz auf ihr «Gromi»
Enkelsohn Nicolas hat Durst. Wie praktisch, dass sein «Gromi» eine Kühlbox mit Getränken dabeihat – und auch ein paar Schoggiguetsli finden den Weg auf den Tisch. Wer rennt denn schneller? «Ich», erklärt der Kindergärtner. Korrigiert sich jedoch sofort. Noch verliere er gegen «Gromi» – aber seine ältere Schwester Natalie, die in die zweite Klasse geht, die sei wirklich schneller. Nicolas mag ohnehin lieber Fussball, ist ein grosser YB-Fan und kann es kaum erwarten, bis er endlich alt genug ist für den Verein.
Margaritha Dähler-Stettler ist zweifache Mutter, dreifache Grossmutter, ihr Mann starb vor vier Jahren. Die Familie sei schon «bitzli stolz» auf sie, glaubt die Sportlerin. «Ich denke aber, sie freuen sich einfach, dass ich noch so fit bin und mein Leben allein meistern kann.» Ihr Körper macht noch immer mit. «Während der Wettkämpfe tut nichts weh», meint sie. Und doch ist ihr bewusst: Es ist nicht mehr alles wie früher. «Ich würde nicht mehr irgendwo runterspringen. Der Boden kommt nicht, wenn man ihn erwartet, sondern eher. Es ist alles verzögert.»
Dreimal pro Woche trainiert Margaritha Dähler-Stettler mit dem Hammer – auch in einer Gruppe mit jüngeren Sportlern.
Marion BernetDie Leichtathletin hat in ihrem Leben viel Glück gehabt. 2000 erleidet sie einen schweren Motorradunfall. Das linke Knie ist zerstört, Dähler-Stettler braucht mehrere Operationen und kämpft gegen Entzündungen. Wenige Jahre später erhält sie die Diagnose Lymphdrüsenkrebs. «Ich wurde nur bestrahlt», erinnert sie sich. «Ich konnte weiterhin trainieren und an Wettkämpfen teilnehmen.» Heute ist sie wieder gesund. Einmal pro Woche geht sie joggen. Dreimal wöchentlich trainiert sie Hammerwerfen, hin und wieder besucht sie einen Kraftraum oder übt Sprints auf der Bahn. «Wenn man jung ist, denkt man nicht daran, mobil zu bleiben fürs Alter. Bewegung ist wichtig, genauso wie Übungen für Reaktion und Gleichgewicht.»
Deshalb soll die WM in Florida nicht die letzte gewesen sein. Im Oktober finden auf Madeira die Europameisterschaften statt. Dort will Margaritha Dähler-Stettler am Start stehen. In ihrer Altersklasse gibt es in der Schweiz fast keine aktiven Leichtathletinnen mehr. Ihre Augen blinzeln verschmitzt: «Wenn ich irgendwo starte, ist es immer gleich ein Schweizer Rekord.» Die nächsten Medaillen liegen bereit – ausruhen kann sich die Seniorin später noch.