«Pole, pole» («langsam, langsam») sagt der Guide. Das entspricht zwar nicht gerade Marias Temperament, aber sie hält sich in dieser Vollmondnacht an die Vorgabe. Nach sieben Stunden ist es geschafft: Maria Anesini-Walliser steht am 9. Januar 2020 auf dem Kilimandscharo. 5895 Meter über Meer. Top of Africa.
An ihrer Seite Menschen, die ihr sehr wichtig sind: Ehemann Guido Anesini. Schwester Prisca. Und Franz Schuler. «Mein allerbester Bergführer», sagt Maria; mit dem erfahrenen Malanser war sie in allen Schweizer Kantonen auf dem höchsten Berggipfel, ebenso auf dem Elbrus, auf dem Montblanc. Trekking am Himalaja steht noch auf der Bucketlist. Maria ist ja erst 60. Da muss man noch Pläne haben.
Maria Anesini-Walliser steht eigentlich immer ganz oben. Und das ganz gerne. Es gibt viele Weltmeister, die kommen und gehen. Aber dann gibts noch die Weltmeister und Olympiasieger, die uns ewig in Erinnerung bleiben: Bernhard Russi, Pirmin Zurbriggen, Vreni Schneider, Erika Hess und Marco Odermatt gehören zu dieser Kategorie. Natürlich auch Maria Walliser. 25 Weltcuprennen hat sie gewonnen, 3 WM-Goldmedaillen und ein paar Kristallkugeln dazu.
Bei den meisten Siegen war ich live dabei. Als Reporter für den «Blick»; an die 100 Titelgeschichten werden es wohl gewesen sein. Ich gestehe: Ich war fasziniert. Von Maria als Rennfahrerin und natürlich auch von Maria als Frau. Nicht alle jubelten: Wer so viel Erfolg und so viel Strahlkraft hat, muss mit Neid und Eifersucht umgehen können. Maria wehrte die Giftpfeile mit einem sanften Lächeln ab: «Nicht umsonst sagt man dem Weltcup auch Skizirkus.»
Immer alles geben
«Wer mich gut kennt, muss mir nur in die Augen blicken. Dort sieht man sehr genau, was mit mir los ist.» Am 5. Februar 1989 bei der WM-Abfahrt in Vail (Colorado) war die Botschaft klar: Konzentration. Siegeswille. Zuversicht. Maria ging noch ein letztes Mal in ihrer grossartigen Karriere ans Limit und wohl auch drüber hinaus, riskierte ein letztes Mal für eine Medaille Kopf und Kragen. Vorsprung im Ziel: 1,5 Sekunden. Im Spitzensport eine Weltreise. Am 18. März 1990 war Schluss. Maria Walliser kündigte im alten Schulhaus von Veysonnaz VS und exklusiv in der Schweizer Illustrierten ihren Rücktritt an. Sie verabschiedete sich aus dem Skizirkus mit Tränen in den geheimnisvoll blauen Augen.
Das Leben danach? Fix geplant. Das wunderschöne Haus in den Rebbergen von Malans GR war schon bezogen, der Mann fürs Leben war auserkoren: Am 10. Mai 1991 führte Guido Anesini seine Maria in der Kathedrale von Chur zum Altar. Traumhochzeit! Zehn Maibäume, Hunderte von weissen Astern und Nelken. Ein Hochzeitskleid von Chez Janine mit bemerkenswert tiefem Dekolleté. Ein tolles Fest auf Schloss Brandis.
Keine «Gluggere»
Und Kinder? Zwei. Zwei wunderbare junge Frauen, Siri und Noemi. Erfolgreich wie ihre Mutter. Beide mit einem Master-Abschluss. Beide mit ausgeprägtem Familiensinn. Beide hart im Nehmen. Siri kam mit offenem Rücken (Spina bifida) auf die Welt, ist an den Rollstuhl gebunden. Bremsen liess sie sich dadurch nicht. Sie rollte an der Uni Luzern durch die Hörsäle, ist heute glücklich verheiratet. Maria hat die junge Juristin auf dem schwierigen Weg begleitet: Nicht ängstlich wie eine «Gluggere» (das hätte Siri gar nie zugelassen), eher wie eine grosse, liebevolle Schwester. Maria engagiert sich seit Jahren für die Stiftung Folsäure Schweiz, sagt: «Wer die Verhütung absetzt, sollte direkt zur Folsäure greifen.»
Und Noemi? Sie musste den Traum von einer Skikarriere schweren Herzens aufgeben, setzt auf die Karte Studium und schreibt momentan am Zweitwohnsitz der Familie in Davos an einer Arbeit über nachhaltigen Tourismus. Die neue gemeinsame Sportart für Mutter und Tochter: Golf! Wer Maria auf den Greens von Bad Ragaz SG in die Augen schaut, wenn sie mit höchster Konzentration die ideale Puttlinie sucht, weiss, was los ist: Die Frau will auch hier gewinnen.