Das Maiensäss Tschividains auf der Lenzerheide GR ist tief verschneit. Keine Frage: Der Winter ist da. Die besten Skifahrer der Welt kämpfen gerade im 8500 Kilometer entfernten Beaver Creek mit der Rennpiste Birds of Prey, Mauro Caviezel mit zwei Kreisen auf seinem Handydisplay. Er sitzt in der Holzhütte seiner Familie vor dem Cheminée und trainiert mit einer Spezial-App seine Augen: Durch Schielen soll er aus den zwei Kreisen drei werden lassen. Es ist eine von vielen Übungen, die zurzeit einen Platz in Caviezels Alltag einnehmen. «Ein Puzzleteilchen fehlt mir noch», sagt der 33-jährige Bündner. Vor ziemlich genau einem Jahr feiert er seinen ersten Weltcupsieg, endlich, nach bereits zehn Podestplätzen. Und das bloss sechs Monate nach einem Achillessehnenriss! Er bestätigt dies mit einem zweiten Platz in Gröden, die Form ist stark, doch dann, Anfang Januar 2021: Sturz im Training, schwere Gehirnerschütterung, Verletzungen im Knie.
Plötzlich in einem anderen gesteckten Lauf
Es sind die Folgen dieser Kopfverletzung, die ihn nun in der Schweiz halten, statt dass er rund um den Globus Weltcuppunkte jagt. Das Problem: Wenn er in der tiefen Hocke ist, Kopf nach unten, Blick nach oben, dann hat er Mitte links Einschränkungen, sieht doppelt. Kürzlich steuert er im Training das Aussen- statt das Innentor an, findet sich plötzlich in einem anderen gesteckten Lauf wieder. Oder sieht am Ende eines Super-G-Trainings die letzten beiden Tore verschoben. Und das bereits nach 40 Fahrsekunden – dabei weiss er doch, dass Rennen viel länger dauern. Klar: «Dann wirds heikel.»
Nun ist Mauro Caviezel unfreiwillig ein Profi, wenn es um Comebacks geht. Trotz seiner eigentlich ruhigen Art wird er auf den Ski zum Draufgänger, der immer am Limit fährt, immer Vollgas gibt. Als Kind kletterte er überall hinauf, fiel herunter, trug oft ein blaues Auge davon. Ein Herantasten gibts bei ihm kaum, «ich fahre 100 Prozent, das ist mein Charakter».
Das trägt Caviezel eine Reihe von Verletzungen ein, vom Kreuzbandriss über eine Schulterluxation bis zu Blessuren an der Hand, dem Meniskus, der Achillessehne. Er holt sogar Podestplätze mit gebrochenem Finger – der Bündner hat eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Doch eine Kopfverletzung, das ist neu. Bei Brüchen oder Rissen gibt es einen Grundplan für die Heilungsphase. Nun gibts gar keinen Plan, keine Prognose. Dass es klick macht und die letzten Sehstörungen behoben sind, kann morgen passieren, in zwei Monaten – oder gar nie.
«Ein Herantasten gibts bei mir kaum. Ich fahre 100 Prozent, das ist mein Charakter»
Mauro Caviezel
«Ich kann nicht direkt Einfluss nehmen wie bei anderen Verletzungen, darf nicht zu viel forcieren. Es muss von selbst heilen, und trotzdem muss man versuchen, etwas zu bewegen.» Das zu akzeptieren, braucht Geduld. Der Alltag ist kein Problem, Caviezel ist fit, nur diese Störung hindert ihn am Ausüben seines Jobs. «Ich bin durch die Verletzungen geduldiger geworden. Aber das heisst noch lange nicht, dass ich geduldig bin.»
Ganzheitliche Herangehensweise bei der Reha
Was er über die Jahre gelernt hat: den Körper ganzheitlich zu betrachten. Er ist schon früher mit der normalen Reha nach einer Operation nicht mehr weitergekommen. Also versucht er, nicht nur «am Problem da oben» mit dem betroffenen Nerv zu arbeiten; vielleicht muss man beim Fuss ein Problem lösen, das dann mit dem Kopf zusammenhängt. «Es ist so komplex.»
Nach dem Unfall hat Caviezel sich mit anderen Sportlern ausgetauscht, mit Skifahrern wie Marc Gisin oder Eishockeyanern. Doch je nachdem, auf welchen Bereich des Kopfes man fällt, sind auch die resultierenden Probleme unterschiedlich, ergo helfen andere Erfahrungen nur begrenzt.
Also gräbt sich der WM-Bronzemedaillengewinner von 2017 tief in die neue Materie. Nachdem er bereits an der Ski-WM im Februar einen kurzen Super-G-Versuch gewagt hat («Im Nachhinein weiss ich, dass es zu früh war, doch ich wollte alles probiert haben»), bricht er die Saison ab und beginnt im Frühling neben dem Konditions- auch mit einem Neurotraining. Im Sommer in der Turnhalle, wenn er nach einem Spiel einen Purzelbaum auf einer Matte macht, wird ihm schwindlig – zu viele Impulse aufs Mal. Schritt für Schritt passt er mit seinem Neurologen die Übungen an.
Jeder Sturz bewirkt eine Störung im Körper
Als er im Windkanal dann wieder strube Bilder sieht und alles flackert, lässt er sich im Spätsommer bei einem Optometristen (einem Spezialisten für Fehlsichtigkeit) testen. Auch dort treten die Sehstörungen auf. «Da wusste ich: Ich spinne nicht. Endlich hatte ich da mal etwas Fassbares.» Seither trainiert er seine Augen. Manche Übungen erschöpfen ihn, andere sind wohltuend und helfen Caviezel herunterzufahren.
Dazu kommt die Arbeit mit seinem Manualtherapeuten Rolf Fischer, der manch andere Sportlerkarriere verlängert hat. Da geht es etwa um ein Problem tief im Genick – auch das könnte im Zusammenhang mit den Sehproblemen stehen. Jeder Sturz bewirke eine Störung, und die müsse man wortwörtlich aus dem Körper rausschaffen.
Spricht Caviezel in hohem Tempo über seine diversen Therapien, lässt er keinen Zweifel daran, dass er alles versucht, um dem ersehnten Klick-Moment den Boden zu ebnen. In der Hoffnung, dass etwas davon oder eben alles im Zusammenspiel die Dinge löst, die verantwortlich sind dafür, «dass mich der Körper vor etwas schützt und zurückhält».
Wie geht es dem Comeback-Profi mit dieser Ungewissheit? Es ist schwierig, das spürt man. «Ein paar Wochen vor der Saison wurde ich nervös.» Dann nämlich, als er gemerkt hat, dass er seine Pläne wohl verschieben muss. «Mittlerweile bin ich wieder etwas ruhiger.» Ablenkung und Unterstützung findet Caviezel bei der Familie, seiner Freundin Nina, bei Partnern und Sponsoren. «Ich kann einmal häufiger mit ihnen essen gehen als sonst», sagt er.
«Nach den Tests beim Optometristen wusste ich: Ich spinne nicht, da ist etwas»
Mauro Caviezel
Zu viel Ruhe soll es aber auch nicht sein. Sollte es klick machen, steht er mitten in der Saison und muss schauen, dass er körperlich und mental bereit ist. Die Rennen sieht er sich an, auch wenn das schmerzt. Mit seinem Bruder Gino, 29, ist er stets in Kontakt, er weiss, was auf der Besichtigung läuft, gibt Tipps.
Die Probleme im Sport bewusst in einen Kontext stellen
Wer nicht mehr dran glaubt, dass es nochmals gut kommt, hat im Profisport schon verloren. Auch für Caviezel ist der Gedanke ans Karriereende keine Option. Doch stellt er seine Probleme im Sport bewusst in einen Kontext. «Ganz wichtig: Mir geht es sehr gut. Bei mir ist es ein Unfall in meinem Job. Aber es gibt viele Sachen wie Krankheiten oder extremere Unfälle, bei denen es von heute auf morgen einen Bruch gibt», reflektiert er, «und wo du nicht so schnell wieder rauskommst. Auch ich habe das in meinem Umfeld erlebt, und das relativiert vieles.»
Einen Mauro Caviezel deshalb abschreiben? Wer das tut, könnte sich bald die untrainierten Augen reiben.