«So froh, dass ich meinen ganzen Körper bewegen kann. Ich hatte sehr viel Glück.» Mit diesen Worten meldet sich Michelle Gisin (32) aus dem Spital. Fünf Tage zuvor passierte einer jener Momente, wie man ihn nie erleben möchte – wie er im Skirennsport mit seinen Unwägbarkeiten, äusseren Einflüssen und Zentimeterentscheidungen aber immer wieder vorkommt: Die Bodensicht ist schlecht, der Schnee vermischt sich mit dem Hintergrund, die kleinen Rillen und Spuren sind kaum zu erkennen. Michelle Gisin ist scheinbar sicher unterwegs. Doch eine kleine Bodenwelle bringt sie aus der Idealposition – und eine Kompression aus dem Gleichgewicht.
Der Aussenski läuft aus der Spur – und die Beine der Rennfahrerin werden auseinandergerissen. In einer der schnellsten Passagen mit über 110 Stundenkilometern geht Gisin zu Boden und prallt ungebremst in die Fangnetze. Die Bilder schmerzen beim blossen Hinschauen – und die Schreie der Sportlerin gehen durch Mark und Bein.

Der Schockmoment: Nach ihrem Trainingssturz wird Michelle Gisin erstversorgt und mit dem Helikopter ins Spital geflogen.
KeystoneSpäter bestätigen sich die Befürchtungen: Die 32-jährige Engelbergerin erlitt einen Kreuzbandriss sowie einen Innenbandriss im linken Knie. Dazu kommen Verletzungen im Unterschenkel des linken Beins sowie an der rechten Hand – und der Halswirbelsäule. Doch Gisin hat auch Glück im Unglück. Sie spürt Arme und Beine – und kann das Horrorszenario einer Lähmung bald ausschliessen.
In die Klinik statt ins Hotel
Trotzdem ist der schwere Sturz ein Schock – vor allem für die engsten Verwandten und Vertrauten. Bruder Marc Gisin (37) früher ebenfalls Spitzenskifahrer und nun Rennsportleiter bei Stöckli, befand sich mit seiner Frau auf der Anfahrt, als ihn die Meldung erreichte: «Meine Frau verfolgte die Liveresultate des Trainings auf dem Handy. Als bei Michelle DNF (Did not finish) erschien und das Training unterbrochen wurde, ahnten wir, was passiert war.» Wie schlimm es wirklich war, erfuhr Marc wenig später von den Trainern. Anstatt ins Hotel sei er Richtung Klinik gefahren – und habe seine Schwester bald getroffen. Michelle sei – den Umständen entsprechend – gut drauf gewesen und habe sogar Spässchen gemacht.

Allrounderin: Michelle Gisin (Mitte) mit Kombinations-Silber an der WM 2017 in St. Moritz mit den Geschwistern Marc und Dominique.
SIAls die Ärzte die Halswirbelsäule aber genauer untersuchten, wurde die Schwere der Verletzung deutlich. Marc Gisin: «Es sah nicht gut aus. Deshalb wurde Michelle schnellstmöglich zu einem Spezialisten nach Zürich geflogen.» Noch in derselben Nacht wurde sie operiert – stundenlang. Über die genaue Diagnose spricht niemand (auch Swiss-Ski-Arzt Walter O. Frey verweist auf die Schweigepflicht). Aber offenbar war die Halswirbelsäule instabil. Ausserdem ist von mehreren kleinen Frakturen die Rede. Den Ärzten gelang es, die Verunfallte zu stabilisieren – und das Schlimmstmögliche abzuwenden: «Michelle hatte sehr viel Glück», sagt Marc.

Die Rasselbande wartet 1995 aufs Christkind: Marc, Michelle und Dominique Gisin gut frisiert und bestens gekleidet.
SIDer Unfall trifft eine Sportlerin und deren Familie, die im Laufe der Jahre schon viele schmerzhafte Erfahrungen machen mussten. Die ältere Schwester Dominique Gisin (40) wurde 2014 sensationell Abfahrtsolympiasiegerin. Davor und danach erlitt sie aber 14 teils schwere Verletzungen, 12 davon in beiden Knien. Und Marc Gisin lag vor acht Jahren nach einem fürchterlichen Sturz in Gröden mit einem Schädel-Hirn-Trauma, einer Lungenquetschung und mehreren Knochenbrüchen tagelang im Koma. Darauf angesprochen, sagt er: «Es geht jetzt nicht um mich. Aber für unsere Eltern sind solche Situationen der blanke Horror. Sie mussten das schon viel zu oft erleben – bei Dominique, bei mir – und nun bei Michelle.»
Das Leiden der Gisins
MARC Der 198 cm grosse Modellathlet machte immer wieder Bekanntschaft mit
der Unerbittlichkeit des Skirennsports. 2012 riss sein Kreuzband. 2015 blieb er in Kitzbühel mit einem Schädel-Hirn-Trauma und Hirnblutung im Schnee liegen. Und 2018 erlitt er in Gröden erneut ein Schädel-Hirn-Trauma, eine Lungenquetschung und diverse Knochenbrüche.
DOMINIQUE Ihr Krankendossier ist quälend lang. 14 Mal musste sie wegen einer
Verletzung pausieren. Die schwerste Blessur zog sie sich 2015 zu – mit einer Schienbeinkopffraktur im rechten Knie.
MICHELLE Mit 17 wurde sie von einem Kreuzbandriss gebremst. Mit 25 erlitt sie einen Knorpelschaden und eine Kreuzbandzerrung. 2021 folgte das Pfeiffersche Drüsenfieber.
Durchkreuzte Familienpläne
Dabei hatte die Familie für St. Moritz ganz andere Pläne. Gemeinsam wollten sie die Rennen erleben – und Michelle zujubeln. Marc sagt: «Michelle war sehr gut drauf. Ein Topergebnis hätte ihr zusätzlichen Schwung geben können. Es tut mir extrem leid für sie.» Anstatt ein Skifest zu feiern, eilten die Eltern Bea und Beat und der Verlobte Luca De Aliprandini in die Klinik nach Zürich, um Michelle beizustehen. Marc blieb mit seiner jüngeren Schwester via Sprachnachrichten in Kontakt: «Sie tönte erstaunlich gut», sagt er.

Erleben alle Hochs und Tiefs mit ihren skifahrenden Kindern: die Eltern Bea und Beat Gisin.
Herbert ZimmermannDe Aliprandini (35) kehrte danach – auf ausdrücklichen Wunsch von Michelle – nach Val d’Isère zurück, um den Riesenslalom zu fahren. Wie nah ihm die ganze Situation geht, wurde beim Interview mit der italienischen TV-Station Rai ersichtlich: «Michelle wollte unbedingt, dass ich fahre – aber es ist klar, dass ich die Emotionen nur schwer kontrollieren kann. Michelle gibt mir so viel Kraft – aber die Unsicherheit um ihre Gesundheit rückt alles in den Hintergrund.» Dann brach De Aliprandini in Tränen aus. Dass er das Rennen abgeschlagen auf dem 26. Platz beendete, war nichts als logisch.

Verlobung am Gardasee. Im Sommer 2024 machte Luca De Aliprandini seiner Michelle einen Heiratsantrag.
InstagramDas schwer havarierte Knie wird erst operiert, wenn sich Gisin etwas erholt hat. Wichtig ist für die Sportlerin und ihre Familie, dass sie wieder ganz gesund wird. Über die Rückkehr auf die Skipisten mag niemand sprechen. Dabei wäre für Michelle Gisin in den kommenden Wochen und Monaten eine Schlüsselrolle vorgesehen gewesen – umso mehr, als mit Lara Gut-Behrami (34) und Corinne Suter (31) zwei weitere Teamleaderinnen nach Stürzen ebenfalls verletzt ausfallen.
Der General der Bourbaki-Armee
Abfahrtstrainer Stefan Abplanalp muss sich vorkommen wie der General der Bourbaki-Armee. Dieser Vergleich ringt ihm zwar ein kleines Lächeln ab, aber schnell wird er ernst: «Solche Ereignisse tun mir extrem leid für die Fahrerinnen. Wenn man sieht, wie sie sich auf die Saison vorbereitet und wie viel Zeit und harte Arbeit sie in den Formaufbau investiert haben, ist dies für alle Beteiligten sehr schmerzhaft.»

Frohnatur: Am Tag vor dem fatalen Sturz zeigte sich Michelle Gisin am 10. Dezember noch wie gewohnt voller Zuversicht und Freude aufs Rennen.
keystone-sda.chAls Trainer ist er in solchen Situationen auch psychologisch gefordert. Vor allem mit der noch relativ unerfahrenen Malorie Blanc (21) habe er länger gesprochen: «Dabei ging es vor allem darum, der Sportlerin Sicherheit zu vermitteln – und den Blick nach vorne zu richten.» So brutal es töne, es sei wichtig, so schnell wie möglich zur Normalität zurückzukehren. Zum Sturz selber sagt der 51-jährige Berner: «Es passierte so schnell, dass Michelle keine Zeit für eine Korrektur oder eine Reaktion blieb.» Abplanalp schliesst sich der Einschätzung von Marc Gisin an: «Michelle hatte grosses Glück im Unglück. Es hätte noch viel schlimmer kommen können. Auch dass der Airbag aufging, verhinderte wohl noch schwerere Verletzungen.»
Die Gedanken des Trainers sind bei der Sportlerin und ihrer Familie. Abplanalp wünscht sich nichts mehr, als dass Michelle Gisin wieder ganz gesund wird und auf die Skipisten zurückkehrt. Ob es aber je so weit kommt? Marc Gisin sagt: «Als Sportler merkt man selber am besten, wann der Zeitpunkt gekommen ist, um aufzuhören. Bei mir war es, als ich realisierte, dass der Körper dem Kopf nicht mehr gehorchte.» Für Michelle Gisin und die Schweizer Skifans bleibt zu hoffen, dass das Zeitkontingent der zweifachen Olympiasiegerin noch nicht aufgebraucht ist.
