Eigentlich sollte Peter Knapp nur für ein Foto auf dem «Ritiseili» absitzen. Urplötzlich aber erwacht im 92 Jahre alten Künstler das «Kind im Manne», und er schaukelt ausgelassen drauflos. Der Mann strotzt nur so vor Lebenslust und Energie; seine Augen leuchten wie die eines Dreikäsehochs. Knapp gibt Gas – und das nicht zu knapp. Jüngst musste er gar für einen Monat seinen Führerausweis abgeben. «Weil ich zu schnell unterwegs war», gibt er verlegen zu.
Paris–Klosters–Paris. Die 1600-Kilometer-Strecke legt Peter Knapp Monat für Monat mit dem Auto zurück, sitzt dabei selbst am Steuer. Im Pariser Vorort Malakoff, «einem seit 1945 kommunistischen Viertel», arbeitet er, in den Bündner Bergen lebt er und spannt aus. Warum er sich die Strapazen der Pendelei antut? «Kulturell passiert in Paris viel mehr!» Nicht nur in der französischen Hauptmetropole durchstreift er Museen und Galerien. Oft steigt Knapp spontan ins Flugzeug, um Kunstausstellungen in New York oder Barcelona zu besuchen.
In Frankreich gilt der Schweizer als Revolutionär. Als Art Director veränderte Peter Knapp einst das Layout und die Bildsprache von Modezeitschriften wie «Elle» fundamental. Als Modefotograf war er international gefragt bei Magazinen wie «Stern» und «Vogue», «Sunday Times» oder «Marie Claire». Er gilt als Frauenversteher, prägt mit seiner Fotografie ein neues, modernes Frauenbild. Knapp könnte sich auf diesen Lorbeeren ausruhen, als Pensionär ein ruhiges Leben geniessen. Stattdessen fotografiert, filmt, skizziert und zeichnet er, sinniert über Konzepte und studiert an Ideen herum. «Ich habe so viele Projekte, die noch gar nicht fertig sind», sprudelt es aus ihm heraus.
Spaziert er in Klosters durchs Dorf, hört er oft: «Herr Knapp, sind Sie in den Ferien?» Spitzbübisch antwortet er darauf jeweils: «Entweder bin ich bereits mein Lebtag lang in den Ferien, oder ich schaffe das ganze Leben schon.» Sein Antrieb mit 92 Jahren ist der Drang, Geschichten zu erzählen. «Ich spüre eine innere Lust, alles, dem ich begegne, in Bildern auszudrücken.» Er habe seit je Riesenrespekt vor Charlie Chaplin, der Filme inszenierte, in denen kein einziges Wort gesprochen wird, die aber eine berührende Botschaft vermitteln.
Seine Kraft holt sich Peter Knapp in den Bergen. Noch bis vor einem Jahr sauste er die Parsenn-Hänge auf Ski hinab. Doch nach einem fatalen Sturz, nach welchem ihm ein Teenie-Mädchen wieder auf die Beine half, konsultierte er zum Untersuch einen Arzt. Der beschied ihm, entweder nie mehr hinzufallen oder aber stets eine 16-Jährige an seiner Seite zu haben. «Aber ich will ja keinesfalls anrüchig erscheinen», sagt Knapp augenzwinkernd. Vor zwei Jahren starb seine zweite Frau Christine. Nach den 38 Ehejahren trägt er als Erinnerung ihren Ehering am kleinen Finger. «Ich selbst besass keinen, fand es oft störend, bei der Arbeit Ring zu tragen.» Seine Rolex, einst ein Geschenk zum 35. Geburtstag, vermachte er, als er 90 wurde, seinem Sohn. Seither trägt Knapp eine schlichte, «dafür gut ablesbare SBB-Bahnhofsuhr von 1932» am Handgelenk.
Ob Statussymbole oder Geld – aus beidem machte sich Knapp nie viel. «Das Geld war nur für die Frau. Ich hatte gar keine Zeit, es selbst auszugeben.» Obwohl – einen Luxus erlaubte er sich als junger, erfolgreicher Grafiker mit gerade 24 Jahren: einen Mercedes-Benz 300 SL, Typ W-194, mit Flügeltüren. Eine absolute Rarität, gerade mal elf Exemplare wurden davon gebaut. Abgekauft hat er «diese Skulptur von einem Auto» 1955 Waffenfabrikant Emil Bührle. «Er war zu gross für das Auto», erzählt Knapp und fügt lachend an: «Mein ganzes Geld ging für diesen Kauf drauf. Ich besass keinen Rappen mehr zum Tanken.» Später schnitt Knapp mit der Kamera das Bild eines Mercedes’ für den Automobilkonzern an. «Das Bild findet sich bis heute im Buch ‹Die besten Mercedes-Fotos›.»
Dass er nach Ausstellungen rund um die Welt, einer grossen Retrospektive 2020 in der Cité de la Mode et du Design in Paris und dem 2021 verliehenen Schweizer Designpreis jetzt in Davos – dem Nachbardorf seines Zuhauses – in einer Gruppenausstellung mit jungen Künstlern präsent sein wird, bereitet ihm besondere Freude. Zu sehen sind «flache, fast monochrome Winterlandschaften». Knapp suchte dafür knorrige Holzstämme, bemalte diese weiss, fotografierte sie und schuf aus den Fotografien Reliefs. «Schaut man sie von Weitem an, sind es immer noch Bilder, erst aus der Nähe betrachtet, erscheint das Volumen», erklärt der Künstler.
Eine grosse Ausstellung des Schweizer Künstlers ist von Februar bis Mai 2024 im belgischen Charleroi zu sehen. Das Musée de la Photographie gilt als bedeutendstes Fotomuseum Europas. Es zeigt eine Hommage an Knapps Arbeit, «die die Atmosphäre einer Ära (1965–1980) sowie die Veränderungen in der Gesellschaft, die sie erlebt hat, wieder aufleben lässt».
Wenige Tage nach dieser Schau wird Peter Knapp 93. Beim Frühstück wird er im TV wie jeden Morgen 150 stilvoll gekleideten Orchestermusikern lauschen, die Herbert von Karajan dirigiert. «Das ist, als spielten sie nur für mich. Manchmal ist TV grossartig!»