Es ist düster im Parkhaus Urania in Zürich. Das Neonlicht flackert über leere Stellplätze. Eine Frau in hohen Schuhen geht schnellen Schrittes durch die Stille – als plötzlich jemand hinter ihr auftaucht. Ein einzelner gezielter Stich mit einem Messer trifft ihren Rücken. Sekunden später liegt Barbara B., 29 Jahre alt, leblos am Boden. Im Auto liegt noch das Kleid, das sie am nächsten Tag zur Hochzeit ihrer Schwester tragen wollte.
Dieser Mord erschütterte die Schweiz. Nicht nur wegen der Grausamkeit, sondern wegen der Schlagzeile, die folgte: «Der Mörder war eine Frau». Das war im Sommer 1991, und Täterin Caroline H. wurde landesweit bekannt als «Parkhausmörderin».
Mehr als 30 Jahre später sitzen zwei junge Frauen vor Mikrofonen. Sheryn Locher (22) aus Herisau AR und Anja Leibacher (25) aus Sins AG. Sie sind die Stimmen hinter «Lebenslänglich?», einem True-Crime-Podcast – so etwas wie einer Radiosendung über wahre Verbrechen, die man im Internet hören kann. «Die Parkhausmörderin hat mich lange fasziniert. Auch weil es eine Frau war, die getötet hat», sagt Leibacher, die tagelang recherchiert, alte Artikel gelesen und Quellen überprüft hat. Die Folge über die Parkhausmörderin dauert 1 Stunde und 1 Minute.
In Anja Leibachers Wohnung in Aarau nehmen die beiden ihren Podcast auf – oder online, wenn sich Sheryn Locher aus ihrer WG in Chur zuschaltet.
Kurt ReichenbachTatort Schweiz
Der Fall aus Zürich ist nur eines von über 60 wahren Verbrechen, die beide Frauen aufbereitet und nacherzählt haben. Leibacher arbeitet als Moderatorin und Produzentin bei Radio 24 in Zürich, und Locher studiert Multimedia Production an der Fachhochschule Graubünden in Chur. Den Podcast machen sie nebenbei in ihrer Freizeit, seit Ende 2022 erscheint alle zwei Wochen eine neue Folge – mal geht es um den Vierfachmord von Rupperswil, mal um die verschwundenen Kinder aus den Achtzigern. Es sind oft bekannte Fälle, aber auch weniger bekannte: wie die Geschichte von Benno Jud, dessen Zwillingsschwester mit acht Jahren in Maseltrangen SG ermordet wurde. Oder als Pierre Beck, Vizepräsident von Exit Westschweiz, 2017 einer gesunden 86-Jährigen in Genf zum Suizid verhalf.
Über 10'000 Menschen hören ihnen inzwischen zu – rund 70 Prozent davon sind Frauen. Warum gerade Frauen sich so stark für Verbrechen interessieren? «Das ist schwer zu sagen», meint Leibacher. «Vielleicht, weil Frauen empathischer sind. Weil sie sich stärker in Opfer hineinversetzen können.» Locher ergänzt: «Oft löst ein Fall auch gute und schöne Gefühle aus – wenn ein Fall endlich geklärt wird oder eine Familie Frieden findet. Emotionen spielen eine grosse Rolle.»
Kennengelernt haben sich die beiden als Praktikantinnen beim Studentenradio toxic.fm in St. Gallen. Sie merkten schnell: Sie lieben spannende Geschichten über wahre Verbrechen. «Das ist mehr als Mord und Totschlag, es geht um die Abgründe der Menschheit», sagt Leibacher. «Jeder Mensch könnte ein Verbrechen begehen. Mich interessiert, wie es dazu kommen kann», sagt Locher. Weil es damals nur True-Crime-Podcasts aus den USA oder Deutschland gab, beschlossen die Frauen an einem Fest spontan, das selbst in die Hand zu nehmen. «Aber nur mit Schweizer Fällen.» In ihrem Podcast sprechen die beiden Dialekt – und erzählen auch immer wieder Persönliches, etwa vom Prüfungsstress oder von den Ferien. Auch die Moderatorinnen selbst gehören zur Geschichte – jeden zweiten Sonntag lernt man die Menschen hinter den Stimmen etwas besser kennen. Gleich zu Beginn jeder Folge sagen sie: «Wenn wir locker reden oder auch mal lachen, ist das nicht respektlos oder abwertend gegenüber den Opfern gemeint.»
Anja Leibacher (l.) und Sheryn Locher: die zwei Stimmen hinter dem Podcast «Lebenslänglich?»
Kurt ReichenbachHinter den Mikrofonen
Im Frühling sind sie auf Tour gegangen – St. Gallen, Luzern, Bern und in Schöftland AG. Live vor Publikum, 400 Menschen sind erschienen. «Leute haben uns erzählt, dass sie an Tatorten vorbeigefahren sind oder dass ihre Grossmutter mit dem Täter zur Schule ging», sagt Locher. «Die Schweiz ist klein. Fast jeder findet irgendwo einen Bezug.»
Für jede Episode investieren sie mehrere Tage Arbeit. Sie stöbern in Archiven, wühlen sich durch Zeitungsberichte, besuchen Tatorte, führen Interviews mit Ermittlerinnen, Angehörigen – manchmal sogar mit Tätern. «Ich habe einmal einen Bankräuber getroffen», erzählt Locher. «Heute ist er Sozialarbeiter. Er hat erklärt, wie schnell man kriminell werden kann.»
Und wie schläft man nachts, wenn man sich tagein, tagaus mit Gewalt beschäftigt? «Sehr gut», sagt Leibacher. Locher nickt. «Wenn ich einen Fall erzählt habe, ist er für mich abgeschlossen. Ich kann dann loslassen.»
Für Sheryn Locher und Anja Leibacher ist Mord bislang ein Hobby. Doch sie träumen davon, eines Tages davon leben zu können. Fälle, sagen sie, gibt es in der Schweiz noch genug.
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