Bedächtig öffnet Lea Lu, 34, die Tür ihres Pariser Appartements. Das kleine Studio, das dem Kanton Zürich gehört, liegt im zweiten Stock der Cité Internationale des Arts. 320 solche Zimmer beherbergt der Gebäudekomplex im Stadtviertel Marais.
In den 60er-Jahren sollen im obersten Stock die berüchtigten Stelldicheins zwischen Serge Gainsbourg und Brigitte Bardot stattgefunden haben. Heute treffen hier Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt aufeinander, inspirieren sich und finden für gemeinsame Projekte zusammen. Die vier Monate, die Lea Lu dank ihrem Atelier-Stipendium in Paris verbringen darf, sind für die Zürcherin Gold wert. Wikipedia sagt: «Das Künstlertum ist nicht nur ein Beruf, sondern eine menschliche Daseinsform.» Und Lea Lu sagt: «Als Künstlerin wird man von dieser Lebensform ausgesucht, nicht umgekehrt!»
Lea Dudzik, so ihr richtiger Name, verdient sich den Lebensunterhalt neben ihren Konzerten mit dem Erteilen von Musikunterricht. «Das liebe ich sehr. Aber leider bleibt oft nicht mehr viel Raum für Kreativität. Deshalb ist es wichtig, auch mal aus der Alltagsstruktur rauszukommen.» Das tut sie hier, in dieser «nervösen, rauen Stadt». Die Schönheit von Paris sei äusserlich. «Wer genau hinschaut, sieht eine andere Seite – taff und schmutzig. Aber auch inspirierend.»
Genau hingeschaut hat Lea Lu schon als Kind. Und hingehört. Beides ist für sie seit je untrennbar. Denn die Musikerin ist Synästhetikerin. Das heisst, sie sieht Zahlen, Buchstaben und Töne als Farben. So vertuschte Lea lange, dass sie keine Noten lesen konnte. Sie hat sich im Geigenunterricht stattdessen Farbfolgen gemerkt. «Ich hielt das für normal. Erst als ich mit 18 eine Doku im Fernsehen sah, merkte ich, dass das nicht bei allen so ist.» So ist die Synästhesie während ihrer Kindheit nie ein Thema.
Lea stammt nicht aus einer Künstlerfamilie. Ihr Vater ist allerdings ein grosser Klassik-Liebhaber. Als kleines Mädchen hockt sie unter seinem Schreibtisch, wenn er Pfeife raucht und Musik hört. Als sie fünf ist, nimmt er seine Tochter erstmals an ein Konzert in die Zürcher Tonhalle mit. Ihre drei Geschwister – eine ältere Schwester und zwei jüngere Brüder – teilen diese Leidenschaft nicht. Früh lernt die musikbegeisterte Lea Geige und Gitarre spielen – Klavier bringt sie sich selbst bei. Als Lea ihr erstes Lied komponiert, ist sie gerade mal sechs. Doch ihr ist damals klar: «Ich werde bestimmt nicht Musikerin. Das ist zu mühsam.»
Aber eben. Es gibt Daseinsformen, die man sich nicht selbst aussucht. Das Psychologiestudium langweilt Lea ebenso wie das Gymi zuvor. Während des Unterrichts schreibt sie Songs oder zeichnet. Irgendwann meint eine Kollegin: «Ich glaube, du bist am falschen Ort.» Das ist der Zeitpunkt, an dem ihr bewusst wird: Das Künstlertum hat gewonnen. Lea entscheidet sich für die Aufnahmeprüfung an der Jazzschule Luzern – und muss erst mal lernen, Noten zu lesen.
Ein echtes Karriereziel habe sie nie gehabt, sagt Lea Lu. Weder mit ihrer Musik noch mit ihren Zeichnungen, die sie auch schon ausgestellt hat. «Auf meinem Weg ergeben sich immer wieder neue Möglichkeiten.
«Je älter ich werde, desto weniger gern gehe ich Kompromisse ein.»
Ihre Highlights sind Auftritte am Montreux Jazz Festival und im Zürcher Hallenstadion im Vorprogramm von Coldplay, einer der weltweit erfolgreichsten Bands. Und natürlich freut es Lea Lu, wenn ihre Alben in der Hitparade landen. Aber nicht um jeden Preis. «Je älter ich werde, desto weniger gern gehe ich Kompromisse ein.» Darum ist ihr letztes Album «Rabbit» fast im Alleingang entstanden – bis hin zum Abmischen.
Ob sie auch im Privatleben so kompromisslos ist? «Ich bin gern frei», sagt Lea. So frönt sie zum Beispiel ihrer Leidenschaft fürs Reisen am liebsten allein. «Ich erlebe die Umgebung viel intensiver, als wenn ich mit jemandem unterwegs bin.» Im Alltag könne sie aber sehr wohl Kompromisse eingehen. «Das muss man ja. Gerade wenn man mit jemandem zusammenlebt.» Mehr will sie nicht sagen – über ihr Liebesleben schweigt sie konsequent.
Momentan ist für Lea das Wichtigste, Kunst zu schaffen, wann immer ihr danach ist. Meist nachts, mit Blick auf die dunkle Seine und die Lichter von Paris. Dann kommen sie zu ihr, die Melodien und Texte. Und die Zeichnungen. Unzählige sind entstanden in den letzten Wochen. Einigen illustrieren ihr erstes Kinderbuch, das nächstes Jahr im Diogenes Verlag veröffentlicht wird. Anfang 2020 kommt auch ein neues Album.
Im nächsten Frühling geht die Reise auf der anderen Seite des Grossen Teichs weiter. Dank einem Stipendium der Stadt Zürich verlegt Lea Lu ihr Künstlerdasein für ein halbes Jahr nach New York. Was dabei rauskommt? Lea wird es finden. Oder umgekehrt.