«Ein», Natalie Rickli schliesst ihre Augen und holt tief Luft. «Aus», die Lippen kräuseln sich zu einem entspannten Lächeln. «Ein», die 43-Jährige streckt und reckt sich, Spannung bis in die Fingerspitzen. «Aus», auch auf einem Bein steht sie sicher wie ein Mammutbaum.
Yoga hilft Natalie Rickli, den Kopf zu leeren. «Ein Ausgleich zum Job», sagt sie auf der Matte, die sie heute Mittag in der Cafeteria der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich ausgerollt hat. Die SVP-Politikerin braucht Entspannung. Sie hat unverhofft einen der schwersten Jobs gefasst: die Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie im bevölkerungsreichsten Kanton der Schweiz.
Natalie Rickli ist landesweit bekannt. Zwölf Jahre politisierte sie im Nationalrat. Als junge Frau war sie in der stramm blochertreuen Zürcher Sektion eine seltene Erscheinung. Sie fiel aber auch auf, weil sie wegen ihrer regelmässigen Aktivitäten im Netz als erste Social-Media-Politikerin der Schweiz galt. Seit einem Jahr amtet sie als Gesundheitsdirektorin – eine Herkulesaufgabe! Einerseits soll sie die Infektionszahlen tief halten, andererseits darf sie die Wirtschaft nicht vollends ausbremsen.
In ihrem hellen Eckbüro steht das Pult auf Hüfthöhe. Natalie Rickli arbeitet gern im Stehen. Auf dem Tisch: Dossiers und Desinfektionsmittel. Auf der Ablage an der Wand ein Mini-Böögg, den sie dieses Jahr wehmütig wegen des ausgefallenen Sechseläuten-Umzugs aufstellte. Daneben aus Papier gebastelte Tannenbäumli, ein Geschenk ihres Gottenbubs. «Meine beiden Gottenkinder kamen leider zu kurz in letzter Zeit.»
Lange verweilt sie nicht in privaten Erinnerungen. Die Regierungsrätin spricht lieber über ihren Job. In den vergangenen Monaten stand sie im Fokus der Öffentlichkeit: Journalistinnen, Politiker und jeder, der glaubt, es besser zu wissen, kritisieren ihre Massnahmen gegen die Pandemie. Manchen ist sie zu zögerlich, andere werfen ihr eine Ego-Show vor. Und wieder andere behaupten, ihre Ratskollegen grenzen sie aus. «Wissen Sie, ich bin schon lange in der Politik. Da muss ich solche Berichte einfach stehen lassen können.» Natalie Rickli versichert, die Zusammenarbeit in der Regierung funktioniere. «Wir alle geben unser Bestes.»
Kaffeepause auf der Terrasse. Christiane Meier, 48, stösst dazu. Sie bekleidet seit März das wichtige Amt der Kantonsärztin. «Die Pandemie hat uns zusammengeschweisst», sagt Meier. «Natalie ist sehr offen, hört den Fachleuten zu und nimmt sie ernst. Es ist ihr wichtig, dass sie gut informiert wird», so Meier über ihre Chefin.
Die Magistratin behält auch im Interview gern die Kontrolle. Auf die Frage, wohin es dieses Jahr in die Sommerferien geht, überlegt sie ein paar Sekunden: «In die Berge.» Mehr gibt sie nicht preis. Ihre Gefühlslage in der Pandemie beschreibt sie nach kurzem Nachdenken als «sehr gut». Erst auf einen ungläubigen Blick hin ergänzt sie: «Es ist auch sehr intensiv. Täglich, halbtäglich, manchmal sogar stündlich passiert etwas, worauf wir reagieren müssen.»
Emotionen kommen erst dann auf, wenn man den ersten Superspreader-Fall der Schweiz thematisiert. Ein Gast steckte Ende Juni mehrere Besucher im Zürcher Flamingo Club an. «Ich war sauer», erinnert sich Rickli. «Auf Besucher, die falsche Daten hinterlassen, und auf Betreiber, die nicht kontrollieren.» Rufe nach einer generellen Klubschliessung stossen bei ihr trotzdem auf taube Ohren. «Bei aktuell ungefähr 20 bis 30 Neuansteckungen pro Tag im 1,5-Millionen-Zürich wäre eine Klubschliessung unverhältnismässig.» Selbst wenn sie schliessen wollte, eine flächendeckende Entscheidung trifft Rickli nicht alleine, sondern der Gesamtregierungsrat.
«Eines habe ich in der Pandemiebekämpfung gelernt: ruhig bleiben, sich nicht unter Druck setzen lassen»
Immerhin: Seit ihrer Intervention halten sich Klub- und Barbetreiber an die schärferen Auflagen. Eines habe sie in der Pandemiebekämpfung gelernt: «Ruhig bleiben, sich nicht unter Druck setzen lassen.» Und das Ziel im Auge behalten: «Möglichst das Richtige tun.»
Ricklis Arbeitstage dauern oft bis 22 Uhr. «Dann versuche ich aber wirklich, das Büro zu verlassen.» Heute hat sie den Luxus, draussen den Sonnenuntergang zu geniessen – mit ihrem Partner Frank Eisenhut. Der 51-Jährige arbeitet als Chef des Immobilien-Controlling beim Lebensversicherer Swiss Life. «Er hält mir den Rücken frei.» Während sie sogar im Lockdown ins Büro pendelte, arbeitete er vor allem im gemeinsamen Zuhause in Winterthur. «Ein Glücksfall! Er kümmerte sich um den ganzen Haushalt, während ich häufig bis spätabends im Büro war.» An den Wochenenden versuche sie, so gut es geht, Zeit mit ihm zu verbringen.
Im Restaurant Fischers Fritz am Zürichsee gönnt sie sich einen Aperol Spritz, er einen Hendrick’s Gin & Tonic. Rickli beteuert, den Wechsel in die Exekutive nie bereut zu haben. «Ich schätze es, mitgestalten zu können. Auch wenn es streng ist, ich bin gerne Gesundheitsdirektorin.»
Selbstkritisch gibt sie zu, laufend Lehren zu ziehen. So musste sie zum Beispiel die Besetzung des Zürcher Contact-Tracing-Teams von 25 auf 50 verdoppeln, weil es nicht genug Kapazität hatte, um alle Infektionsketten zurückzuverfolgen. Mit der aktuellen Lage sei sie aber insgesamt zufrieden. «Bisher meistern wir die Pandemie im Kanton Zürich gut. Mein Team arbeitet hart.»
Sie wünscht sich von Medien, vermehrt auch die positiven Seiten zu beleuchten. «Dass wir wenig Tote hatten, dass die Spitäler gut vorbereitet waren, aber glücklicherweise nie an den Anschlag gekommen sind. Dass alle in dieser neuen Situation ihr Bestes gegeben haben, geht schon fast vergessen… Manchmal habe ich das Gefühl, man sucht förmlich nach jedem neuen Fall und der Skandalstory dahinter bis hin zur zweiten Welle.»
Hinter dem Pärchen schlägt der Zürichsee nur kleine Wellen. Es ist einer der seltenen Tage, an denen Natalie Rickli mit ihrem Partner den Feierabend geniessen kann. «Ich freue mich auf unsere gemeinsamen Ferien», sagt Frank Eisenhut und beobachtet, wie die laue Sommerbrise durch die blonden Haare seiner Freundin weht.
Die Winterthurerin hofft, dass sich im Hochsommer alles ein wenig beruhigt. Persönlich freut sie sich darauf, ihre Schwester sowie ihre beiden Gottenkinder mehr zu sehen. Sie zückt ihr Handy und zeigt ein Video, auf dem ein Sechsjähriger fragt: «Gotti, wann besuchst du uns wieder?» Und die seriöse Regierungsrätin strahlt wie nie an diesem langen Tag.