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Heinz Frei über Inklusion und die Paralympics

«Nottwil ist unser Magglingen»

Medaillenregen für die Schweiz an den Paralympics in Paris. Spitzensportler Heinz Frei kennt die Spiele seit 40 Jahren. Er nennt die Gründe für den Erfolg und sagt, wo es im Alltag bei uns noch harzt.

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Heinz Frei , Sportler, in seinem Haus in Oberbipp

Sport gab ihm wieder Lebensfreude: An der Rad-WM in Zürich Ende September gibt Heinz Frei seinen Rücktritt vom Spitzensport.

Nik Hunger

Heinz Frei (66) sorgte vier Jahrzehnte für Sportfreude im Land. Im Rennrollstuhl und mit dem Handbike gewann er 35 paralympische Medaillen, davon 15 goldene, 9 silberne und 11 bronzene. Mit 20 Jahren stürzte er mit seinem Velo ein Tobel hinunter, Diagnose: Querschnittlähmung. Frei kämpft sich zurück ins Leben und gilt als einer der erfolgreichsten Schweizer Sportler aller Zeiten und als Pionier des Rollstuhlsports. Er arbeitet als Sportreferent der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung, Rollstuhl Sport Schweiz Nottwil. Er ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Mit Freude verfolgt er zurzeit den Medaillenregen in Paris.

Heinz Frei, wir gewinnen in Paris Medaillen, aber in der Schweiz kann man mit dem Rollstuhl nicht in den Zug steigen. Das ist doch absurd.

Ja, das ist es wirklich. Die Inklusion ist in der Schweiz tatsächlich noch nicht ganz angekommen. Man redet viel darüber, konkret passieren tut nicht viel. Aber solche Systeme können auch nicht von heute auf morgen ersetzt werden, ich bin da etwas nachsichtig. In den 46 Jahren, in denen ich im Rollstuhl sitze, hat sich bereits vieles verändert. Früher gabs kaum öffentliche Rollstuhltoiletten oder Hotels mit Rollstuhlzugang. Heute kann ich gut ÖV fahren.

Ist es nie ein Problem im Zug oder Bus?

Doch, schon. Man muss als Rollstuhlfahrer viel mehr planen, damit man weiss, wo man umsteigen kann. Manchmal muss ich einen Umweg über Olten fahren, weil es nicht anders geht.

Sie waren an zehn Paralympischen Spielen dabei. Dieses Jahr zum ersten Mal nicht mehr.

Ja, das tut schon weh. Das war lange ein grosser Teil meines Lebens. Die Spiele als Zuschauer zu verfolgen, ist mit grosser Wehmut und gleichzeitig mit Demut verbunden.

In Paris zu sein, war keine Option für Sie?

Ich habe mir das lange überlegt. Aber ich bin noch zu nah dabei. Mir tut die Distanz sicher gut. Ich whatsappe aber oft mit dem Schweizer Team und drücke ihm vor dem Fernseher die Daumen.

Wer beeindruckt Sie am meisten?

Catherine Debrunner. Sie ist einfach genial. Und ich freue mich wahnsinnig für Manuela Schär, die über 800 Meter Gold holen konnte. Das ist ein sehr schöner Abschluss. Auch Marcel Hug ist top unterwegs. Auch wenn die Favoritenrolle grossen Druck auslösen kann.

Heinz Frei , Sportler, in seinem Haus in Oberbipp

Neunmal wurde Heinz Frei zum Para-Sportler des Jahres gewählt. Das Zebrafell daheim in Oberbipp BE nennt er Fred.

Nik Hunger

Warum ist die Schweiz im Para-Sport so stark?

Wir hatten immer das Glück, dass wir Aushängeschilder à la Roger Federer hatten. Im Para-Sport war es auch ein Franz Nietlispach, ein Jean-Marc Berset, ein Heinz Frei (lacht) oder auf Frauenebene Daniela Jutzeler und später Edith Hunkeler. Solch grosse Vorbilder inspirieren die Nation – und die Jungen.

Das kann aber nicht der einzige Grund sein.

Das Paraplegiker- und Sportzentrum Nottwil ist ein Magnet. Gerade dann, wenn Schweizer Athleten den Sport zu ihrem Lebensmittelpunkt machen und bereit sind, in die Nähe zu ziehen. Dort ist alles behindertenfreundlich – man kann trainieren, essen, duschen, wohnen. Nottwil ist das Magglingen des Rollstuhlsports geworden.

Können Para-Sportler vom Sport leben?

Wenn man erfolgreich ist, schon. Dann kommen auch die Sponsoren. Und in der Leichtathletik gibt es hohe Preisgelder, bei den sechs grössten Marathons bis 30 000 Franken. Im Falle von Marcel Hug also sechsmal pro Jahr. Aber wenn man in einer Randsportart antritt wie Badminton, dann muss man nebenbei sicher noch arbeiten wie Ilaria Renggli zum Beispiel. Wobei ich das als Vorteil sehe. Weil man dann nicht gewinnen muss, sondern kann. Das «Muss» kann zur Belastung werden.

Sind die Trainingsbedingungen in der Schweiz besser als in anderen Ländern?

Das weiss ich nicht. Aber sie haben sich sicher stark verbessert. Erst seit Kurzem können wir Anträge bei der Schweizer Sporthilfe machen. Auch können wir «militarisiert» werden und so von 130 Tagen freien Trainings in Magglingen, Tenero und Andermatt profitieren. Allgemein ist mehr Geld von den Verbänden und Stiftungen für die Förderung der einzelnen Sportlerinnen und Sportlern da.

Wie kommen junge Menschen zum Para-Sport?

Jugend+Sport bietet immer wieder verschiedene Kurse für Para-Sport an. Und in Nottwil haben wir ein Kids-Camp.

«Wir hatten Ratten im Zimmer und spürten, dass wir nicht willkommen sind»

HEINZ FREI ÜBER FRÜHERE ERLEBNISSE AN PARALYMPICS

Dann müssen die Kinder aus der ganzen Schweiz also nach Nottwil reisen?

Ja, das ist aber der grosse Nachteil bei allen Sportarten. Man kann sich als Para-Sportler nicht einfach in jeden beliebigen Verein aus dem Dorf einschreiben, in die Geräteriege oder den Tennisklub. Da könnte man wahrscheinlich auch selbstständig hinkommen – bei uns brauchen die Kids oft ihre Eltern, die sie hinfahren. Darum ist es wichtig, dass die Eltern erkennen, dass der Sport etwas Wesentliches ist, etwas Gutes.

Auch Ihnen hat der Sport nach dem Unfall geholfen.

Ja, und wie! Auch ich hatte nach dem Unfall eine Krise. Ich hatte als junger Giel Ziele und Träume, wollte auf eigenen Beinen stehen. Auf einmal konnte ich das nicht mehr. Ich habe meine Hände angestarrt und gedacht: Die funktionieren, Gott sei Dank, noch. Wenn ich schon nicht mehr auf eigenen Beinen stehen kann, muss ich mein Leben halt in die Hand nehmen. Der Sport hat mich zurückgebracht. Ich habe wieder angefangen, mich selbst zu lieben und auch meine «Scheichli» zu akzeptieren.

Haben Sie damit gerechnet, dass Sie mal ein Pionier des Para-Sports sein werden?

Nein, niemals! Als Fussgänger hatte ich nie den Mut für eine Sportkarriere. Und als Para-Sportler auch noch keine richtigen Vorbilder. Aber ich habe gemerkt, dass ich durch den Sport wieder meinen Platz in der Gesellschaft finde. Wie sehr haben sich die Paralympics verändert seit Ihren ersten 1984? Oh, sehr! (Lacht.) Die fanden damals im britischen Stoke Mandeville statt. Nicht am gleichen Ort wie die Olympischen Spiele der Fussgänger. Übernach- tet haben wir in einem alten Reha-Zentrum, das nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut worden war. Wir waren 28 im Zimmer. Die Toiletten hatten nur Vorhänge. Das höchste der Gefühle war, als Prinz Charles, der heutige König, an der Eröffnungsfeier auftrat. Aber von Journalisten, Fans oder Live-Berichterstattung konnten wir damals nur träumen. Wir Athleten waren die grössten Fans der anderen.

Die Umstände haben sich also deutlich verbessert?

Auf jeden Fall. 1996 hatten wir in Atlanta noch Ratten im Zimmer. Wir haben damals gespürt, dass wir nicht willkommen sind. Die Fahrer, die uns vom Stützpunkt zu den Wettkämpfen brachten, haben sich oft verfahren. Einige Athleten sind fast zu spät zum Start gekommen. Ich bin froh, dass sich das verändern durfte.

Welche Herausforderungen haben Para-Athleten sonst noch, die Fussgänger-Athleten nicht haben?

Ein hohes Verletzungsrisiko. Wir müssen extrem auf unseren Körper achten. Durch Lähmung oder Prothesen können schnell Druckstellen und Entzündungen entstehen. Und Tetraplegiker oder auch Blinde sind immer auf Hilfe beim Training angewiesen – sie können nicht einfach gehen, wenn sie Lust haben.

Haben es Menschen mit Behinderung heute einfacher als zu der Zeit, als Sie jung waren?

Man ist auf jeden Fall sensibilisierter heute. Frisch Verunfallte in Nottwil sagen mir, dass sie wissen, was jetzt auf sie zukommt. Es gibt Bücher und Dok-Filme und soziale Medien, die das Leben von behinderten Menschen zeigen. Ich wusste es damals nicht.

Von Yara Vettiger am 7. September 2024 - 12:00 Uhr