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Rio vor Augen, Olympia im Kopf

Parasportlerin Flurina Rigling im Porträt

Sie gehört zu den erfolgreichsten Parasportlerinnen der Welt. Flurina Rigling (29) ist zweifache Doppelweltmeisterin. Im Velodrome in Grenchen SO spricht sie über Vertrauen, Teamarbeit, die WM in Rio de Janeiro – und den Traum von Olympia-Gold.

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<p>Nur im Training sind die Sitzplätze leer. «An der WM in Belgien jubelten uns die Massen zu», erzählt Doppelweltmeisterin Flurina Rigling.</p>

Nur im Training sind die Sitzplätze leer. «An der WM in Belgien jubelten uns die Massen zu», erzählt Doppelweltmeisterin Flurina Rigling.

Nik Hunger

Grenchen, ein früher Herbstmorgen. Das Holzoval im Velodrome glänzt wie frisch herausgeputzt. Der Nebel ist draussen geblieben. Auf der Bahn zieht eine zierliche Sportlerin ihre Runden – schnell, präzise, beinahe lautlos. Nur das gleichmässige Surren der Reifen ist zu hören, während vorne ein Moped das Tempo vorgibt. 55 Kilometer pro Stunde zeigt der Tacho. Flurina Rigling und ihr Trainingskollege Laurent Garnier (57) spulen die Kilometer mit stoischer Konzentration und ruhigem Atem ab.«Das ist mein Arbeitsplatz», sagt Rigling später lächelnd, als sie vom Rad steigt. «Hier hat meine Karriere auf der Bahn richtig begonnen. Anfangs war ich ziemlich überfordert – das schmale Holzoval, die Schräglage, das Velo ohne Bremsen und Gänge. Ich hatte grossen Respekt. Heute fühle ich mich hier zu Hause.»

Besonderer Antrieb

Flurina Rigling setzt im Paracycling Massstäbe, auf der Bahn wie auch auf der Strasse. 2021 gewann sie an ihrer WM-Premiere gleich zwei Medaillen, zwei Jahre später in Glasgow zweimal Gold und einmal Silber, 2024 in Zürich das WM-Double aus Zeitfahren und Strassenrennen. Und vor einigen Wochen wiederholte sie diesen Coup in Belgien. Ihre Karriere wirkt minutiös geplant, fast makellos. Doch hinter den Erfolgen steckt ein Leben voller Anpassungen, Disziplin, Arbeit und Neugier. 

<p>Frohnatur trotz täglichen Herausforderungen: Für Flurina ist das Schuheanziehen kein Kinderspiel.</p>

Frohnatur trotz täglichen Herausforderungen: Für Flurina ist das Schuheanziehen kein Kinderspiel.

Nik Hunger

Rigling kam mit einem gravierenden Handicap an Händen und Füssen zur Welt: je nur ein Finger, eine Zehe, dazu eine eingeschränkte Wadenmuskulatur. Deshalb fehlt ihr im Wettkampf beispielsweise die Möglichkeit, die Pedale hochzuziehen: «Bei mir ist alles etwas herausfordernder», sagt sie lächelnd. Schon als Kind lernte sie, mit dieser Besonderheit umzugehen – und klarzukommen. «Ich hatte nie das Gefühl, benachteiligt zu sein», sagt sie. «Ich habe mich immer mit meiner Schwester Anna gemessen. Sie hat gerudert. Ich wollte auch stark sein.» Heute ist die 29-Jährige das Gesicht des Schweizer Parasports. «Meine Hauptmotivation ist einfach», sagt sie, «weil der Sport meine Leidenschaft ist – und mir enorm viel zurückgibt.» Ihr sportliches Umfeld ist hoch professionell. Riglings Rennräder sind ihren speziellen Bedürfnissen angepasst, jedes Detail wurde optimiert – vor allem am Lenker. Aerodynamik-Experten von Swiss Side, Biomechaniker von Numo und Forschende der ETH Zürich unterstützen sie bei der Feinarbeit im Windkanal. Wichtigster Partner bleibt ihr Mechaniker Marc Nägeli von Traumbikes. «Ich kenne ihn seit meiner Kindheit. Er weiss, worauf es ankommt. Ohne ihn ginge gar nichts.»

<p>Mit 55 Stundenkilometern im Windschatten von Trainer Bugden: Flurina Rigling und Trainingskollege Garnier (r.) auf der Holzbahn in Grenchen.</p>

Mit 55 Stundenkilometern im Windschatten von Trainer Bugden: Flurina Rigling und Trainingskollege Garnier (r.) auf der Holzbahn in Grenchen.

Nik Hunger

Zwischen Labor und Bauernhof

Hinter ihr steht ein ganzes Team aus Fachleuten: Der persönliche Trainer Michi Pleus koordiniert die Leistungsdiagnostik, Nationalcoach Scott Bugden ist für die Trainingspläne auf der Bahn verantwortlich, beim Krafttraining profitiert sie von Unterstützung aus Magglingen. Dazu kommen Physio, Ärztin, Sportpsychologin und ihr Orthopäde und Nationaltrainer Dany Hirs – eine stille Armada im Hintergrund. «Man sieht mich allein auf dem Rad, aber es ist Teamarbeit», sagt Rigling. Privat lebt sie bodenständig und naturnah mit Eltern und Schwester auf einem alten Bauernhof in Hedingen ZH. «Wir unterstützen uns gegenseitig. Mein Vater und meine Schwester haben beide gerudert, sie kennen den Leistungssport. Sie wissen, weshalb ich auch bei Regen trainiere oder kein Wochenende freihabe. Trotz Handicap fährt Rigling in einem Tempo, das selbst viele Regelsportlerinnen staunen lässt. Trainer Bugden sitzt auf dem Moped, ruft Anweisungen und gibt Gas. Nach dem Windschattenfahren folgen intensive Sprinteinheiten. Bahnfahren sei eine gute Ergänzung zur Strasse – physisch wie technisch. Und das Windschattenfahren sei ideal, um das Renntempo zu simulieren und das Stehvermögen zu trainieren: «Man lernt, die Linie zu halten und Druck zu machen, ohne zu verkrampfen», sagt Rigling.

<p>Schweizer Medaillengarantin: Der Blick der Athletin geht in Richtung Bahn-WM in Rio de Janeiro.</p>

Schweizer Medaillengarantin: Der Blick der Athletin geht in Richtung Bahn-WM in Rio de Janeiro.

Nik Hunger

Alleine auf Berg und Velo

Ihr Blick bleibt dabei stets analytisch. Sie arbeitet mit Wattwerten, Herzfrequenz, Lactatdaten. «Ich trainiere wissenschaftlich und evidenzbasiert. Wir probieren vieles aus und testen.» Dazu gehört auch das Höhentraining auf dem Säntis oder dem Berninapass. Dies sei oft einsam, aber diese Momente bringen sie weiter, sagt sie. «Am Ende bist du im Rennen auch allein auf dem Velo.» Ihr Alltag ist ganz auf den Sport ausgerichtet. «Spitzensport ist für mich Lebensstil.» Und wie sieht es finanziell aus? Dazu sagt Rigling: «Der Sport trägt sich selber, aber ich lebe auf bescheidenem Niveau.» Sie habe tiefe Lebenshaltungskosten, keine grossen Ausgaben. Unterstützung erhält sie von der Sporthilfe, der Armee und einigen regionalen Sponsoren. «Ich weiss, welch Privileg das ist.»

<p>Alles Massarbeit: Lenker und Pedale von Riglings Rennrädern sind auf ihre speziellen Anforderungen abgestimmt.</p>

Alles Massarbeit: Lenker und Pedale von Riglings Rennrädern sind auf ihre speziellen Anforderungen abgestimmt.

Nik Hunger

In diesen Tagen jagt Flurina Rigling in Rio de Janeiro an der Bahn-WM weiteren Medaillen nach. Vor allem im Scratch und im Ausscheidungsfahren rechnet sie sich Chancen aus. So oder so ist sie voller positiver Gefühle: «Es gilt, ein letztes Mal den Fokus zu finden und alle Energien zu bündeln.» Die WM sieht sie als Etappenziel, nicht als Endpunkt. Ihr grösster Traum liegt drei Jahre weiter: die Paralympics 2028 in Los Angeles. «Natürlich wäre paralympisches Gold ein Traum. Aber ich will mich nicht nur daran festhalten.» Sie spüre, dass die gesellschaftliche Bedeutung des Parasports wachse. Dann zieht sie den Helm wieder an, steigt aufs Rad und rollt an. Eine Runde, zwei, drei. Flurina Rigling lehnt sich in die Steilkurve. Es scheint, als würde sie schweben, dabei ist es harte Arbeit, aber eine, die auf unbändigem Willen, Wissenschaft und Freude gründet. «Ich habe gelernt, mich auf der Bahn wohlzufühlen», sagt sie – und tritt nochmals fest in die Pedale.

Von Thomas Renggli vor 15 Stunden