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  4. Persönliche Gespräche beim Spaziergang: SI-Chefin Silvia Binggeli trifft Musikstar Stephan Eicher

Musiker Stephan Eicher

«Heimat bedeutet, unterwegs zu sein»

Seine Lieder machen Stephan Eicher zum Weltenbürger. Ins beschauliche Bild seiner Heimat wollte er nie passen. Der Chansonnier aus München­buchsee BE im Gespräch über Heimat und Anderssein mit der SI-Chefredaktorin Silvia Binggeli, die selbst Ausgrenzung erfahren hat.

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Stephan Eicher

«Bei den Eichers brodelt es innerlich ziemlich, sie tragen viele Passionen in sich, wollen die Welt umarmen – das ist nicht immer ganz einfach.» Stephan erklärt sein Wesen.

Kurt Reichenbach

«Das ist doch wunderschön, ein Ritterschlag», sagt Stephan Eicher (62) und lässt seinen Blick über die Ebene bis nach Frankreich schweifen. «Wenn ein Ort so märchenhaft tönt, dass viele denken, es gäbe ihn gar nicht.» Wir sind mit dem Chansonnier in Guggisberg unterwegs. Eicher hat das kleine Dorf im Bernischen – 1115 Meter über Meer, ein Dutzend Häuser, der Gasthof Sternen und eine Kirche – in der ganzen Schweiz berühmt gemacht, mit seiner Version des «Guggisberglieds» von 1989. Im ältesten noch bekannten Volkslied der Schweiz wird die unglückliche Liebe zwischen Vreneli und Hans-Joggeli besungen, ein melancholisches Lied, in dem Joggeli in die Fremdenlegion zieht und Vreneli daheim vor Kummer stirbt. «Weisst du, dass auf das Lied einmal die Todesstrafe stand?», fragt Eicher. «Man fürchtete, dass die Soldaten beim Singen Heimweh bekommen und desertieren. Heimweh hiess früher übrigens Schweizerkrankheit.»

Eine persönliche Begegnung

Stephan Eicher und ich begegnen uns zum ersten Mal und sind gleich tief im Gespräch. Ich bin in Guggisberg aufgewachsen. Die Leute sprechen mich immer sofort auf Stephan Eicher an, wenn ich sage, woher ich komme. Für mich eine Herzensangelegenheit, den Musiker hier zu treffen. Der 62-jährige Eicher ist im bernischen Münchenbuchsee aufgewachsen. Als Sohn eines Vaters mit jenischen Vorfahren hat er nie recht ins gängige Bild gepasst. Schon als Teenager ist er von zu Hause abgehauen und hat in Frankreich Weltkarriere gemacht. Seine besinnlichen Rocklieder gehen unter die Haut. Die Texte dafür schreiben zum Teil der Schweizer Erfolgsautor Martin Suter und der französische Star-Literat Philippe Djian. Eicher singt in Französisch, Englisch, Italienisch und Berndeutsch. «Am ‹Guggisberglied› hat mich die Melodie mehr interessiert als die Geschichte von Romeo und Julia auf dem Dorf», sagt er. «Ich habe das Stück mit rumänischen Musikern gespielt und mit korsischen. Sie haben die Melodie aus der eigenen Geschichte erkannt.»

Stephan Eicher

«Wartet ihr nur!» Eicher in der Kirche Guggisberg, wo am Fenster, die Geschichte des «Guggisberglieds» nachgezeichnet ist.

Kurt Reichenbach

Ich bin die Tochter einer Bernerin und eines Westafrikaners. Mit Guggisberg fühle ich mich bis heute stark verbunden. Doch ich habe das Dorf auch aus der Ruhe gebracht. Anfang der 1970er Jahre, als ich geboren wurde, kamen manche vorbei, um mich anzuschauen. «Wahrscheinlich dachten sie, dass du aus dem Welschland kommst», sagt Eicher und lacht, als ich ihm davon erzähle. «Wir sind zwei verschüpfte Kinder, die in die Welt geschickt wurden», fügt er an. Dann steigen wir den Hügel hoch, schnaubend, zum anderen Wahrzeichen des Dorfs, dem Guggershörnli.

Stephan Eicher, Musiker; Silvia Binggeli, Chefredaktorin

Musiker Stephan Eicher unterwegs mit SI-Chefredaktorin Silvia Binggeli.

Kurt Reichenbach

Stephan, was brauchst du, um dich wohlzufühlen?
Ich lasse mich gern aus dem Konzept reissen. Erst wenn ich nicht mehr weiss, wo oben und unten ist, beginnt meine Kreativität, mit der ich eine Welt schaffen will, die harmonisch und schön ist. Dafür muss ich Dinge erst einmal destabilisieren – aber das immer mit viel Liebe.

Was hat dich geprägt?
Das Umfeld, das «Quartier», wie Tinu Heiniger es in seinem wunderbaren Buch «Mein Emmental» nennt. Die Familie können wir uns nicht aussuchen. Später entscheiden wir selbst, zu welcher Gang wir gehören wollen. Münchenbuchsee war fünfmal so gross wie Guggisberg. Aber es gab auch dort den «Hohlenbuur», die Schreinerei, die Egg, wo ich herkam. Weiter oben am Wald wohnten die etwas Reicheren, die anderen hinten im Moosrain. Aber nun habe ich viel gesprochen. In welchem Clan bist du aufgewachsen?

Mein «Quartier» war dieses Dorf. Hier bin ich erstmals auf Entdeckungsreise gegangen. Meine Herkunft hat die Leute aber auch irritiert.
Wirklich? Wieso? (Lacht.) Ernsthaft: Rückblickend war das Anderssein hier wahrscheinlich auch die beste Ausgangslage, die du bekommen konntest. Wenn man rausgeschickt wird, die Leute sagen, du gehörst nicht hierher, wird man zum Entdecker. In Münchenbuchsee fuhr nachts der Zug von Bern nach Paris vorbei. Ich dachte immer: Wartet ihr nur.

Was war damals besonders schwierig für dich?
Meine Schulzeit. Meine Eltern wussten nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Ich habe heute selber zwei Söhne und merke, dass es bei den Eichers innerlich ziemlich brodelt, dass sie in sich viele Passionen haben und die Welt umarmen möchten. Das ist manchmal nicht so einfach.

Wie reagierten deine Eltern?
Sie luden mich ins Auto und fuhren mit mir in ein Bubeninternat im Freiburgischen, das von Patres geführt wurde. Danach sind wir nach Hasliberg gefahren. Und sie sagten mir: Du darfst auswählen, wo du bleiben möchtest. Ich sagte: Hierher will ich. Ich bin meinen Eltern dafür immer dankbar. Meine Familie ist keine, die sich ständig knuddelt. Aber ich habe sie immer wieder umarmt dafür.

Warum?
Die Ecole d’Humanité in Hasliberg war die Art von Schule, die du wahrscheinlich auch gebraucht hättest. Ich war einer von zwei Bernern, dann gab es noch einige Basler. Vor allem aber traf ich auf Schüler aus der ganzen Welt. Es gab zum Beispiel Anwar aus Ägypten, Kinder aus Indien, Afrika, Mexiko, Kambodscha, das hat mir huärä guet gfaue.

Du ihnen auch?
Ich kam in Cowboystiefeln an, die ich im Olmo in Bern gekauft hatte, trug mein Hemd offen, dazu enge Jeans. Die anderen fragten sich, wie das gehen sollte, dieser Rock ’n’ Roller in den Bergen. Ich hatte meine Gitarre dabei, und das hat immer funktioniert.

Im Internat lief es also gut für dich?
Es war das Alter, in dem mich Mädchen interessierten oder besser gesagt: verwirrten. Ich bin viel errötet in dieser Zeit. Ich habe mich mehr um Liebesgeschichten gekümmert als um die Matura. Morgens hatten wir Schule. Nachmittags wurde gezeichnet und Theater gespielt, und im Winter waren wir immer auf den Ski. Ich war ein ziemlich guter Skifahrer. Dort drüben in der Schwarzsee-Region hatte ich übrigens einmal einen üblen Unfall.

Stephan Eicher

Der Vreneli-Brunnen – mit der Dorf-Ikone, die Eicher schweizweit bekannt gemacht hat .

Kurt Reichenbach

Stephan Eicher zeigt Richtung Freiburgerland. Er schweift gern ab. «Ich mache immer viele Umwege, aber ich komme immer zum Punkt», erklärt er, lacht und zieht eine Augenbraue hoch. Er habe lange nicht gewusst, wie man denkt. «Ich bin in einem sehr musikalischen Zuhause aufgewachsen. Aber bei uns wurde weder gelesen noch diskutiert. Erst mit 24, 25 Jahren habe ich gemerkt, dass es Leute gibt, die tatsächlich einen Gedanken zu Ende führen. Jetzt kann ich aber ziemlich gut denken. Wenn du wichtige Fragen hast – zu Banken, zum Weltgeschehen, der Gesundheitspolitik –, ich habe die richtigen Antworten.» Er schmunzelt. «Voilà. Ich mache mich lustig über mich.»

Auf dem Weg zum Hörnli

Während des Aufstiegs zum Hörnli überholt uns ein Ehepaar. Die Frau bleibt stehen und schaut perplex zurück. «Das gibts doch nicht! Heute Morgen habe ich grad noch Ihre Lieder gehört.» Sie ruft ihrem Mann nach, der schon um die nächste Kurve ist. «Schau, das ist Stephan Eicher. Er hat das ‹Guggisberglied› gesungen.» Stephan Eicher bedankt sich und macht ihr ein Kompliment für ihre lilafarbene Jacke. «Sehr schön! Purple. Diese Farbe hat schon Prince besungen.»

Stephan Eicher, Musiker; Silvia Binggeli, Chefredaktorin

«Ich habe gern Menschen.» Stephan Eicher und Silvia Binggeli gemeinsam unterwegs zum Guggershörnli.

Kurt Reichenbach

Zurück zum Hasliberg – wie lange bist du an der Ecole geblieben?
Ich war zweimal dort. Die Matura habe ich nicht geschafft. Meine Eltern sagten: Jetzt musst du eine Lehre machen, wir sind ja in der Schweiz, da macht man eine Lehre. Ich habe mich schlau gemacht, welches die kürzeste Lehre ist: Kellner. Wenn wir an der Ecole selten mal rauchen gingen, sind wir in Rüti auf einen Felsen geklettert und haben von dort auf das Hotel Sauvage in Meiringen geschaut. Dort habe ich meine Kellnerlehre angefangen. Ich blieb genau zwei Stunden.

Wie bitte? Zwei Stunden! Was ist denn passiert?
Auf die Antwort muss ich erst mal warten. Stephan Eicher bleibt stehen, wie er das immer mal wieder macht. «Geht ihr nur schon voraus», sagt er zu mir und dem Fotografen. «Ich brauche einen Moment für mich.» Dann zieht er ein Büchlein hervor und zeich- net. «Mir wirds immer sehr schnell langweilig, nicht langweilig, aber ich möchte immer, dass alles intensiv ist. Zeichnen macht alles intensiver», wird er später erklären. «Wenn ich zeichne, gehört der Moment mir. Mindestens vier Büchlein zeichnet er pro Jahr voll, eins im Frühling, eins im Sommer, im Herbst und im Winter. «Es ist schon lustig, sich das nachher wieder anzusehen. Ich werde die Bücher irgendwann an meine Kinder und Enkelkinder vererben, damit sie sehen, wie ich gewachsen bin.»

Und wie war das nun mit der Lehre im «Sauvage», Stephan?
Im Winter sind wir einmal nach Meiringen gegangen, dort spielte jemand in einer wunderschönen Kirche auf einer Orgel «Oh Jesus, du meine Freude». (Er summt.) Ahhh, diese Melodie, das hat mich so geprägt, meine ganzen inneren Saiten vibrierten nur so, ich habe das Lied Jahre später immer wieder aufgenommen.

Aber wie hat dich das vom Kellnern abgehalten?
Als ich meine Lehre im «Sauvage» angefangen habe, sah ich diese Kirche wieder. Ich sagte zu meinem Chef, Herrn Mausfeld: Ich muss schnell einen Spaziergang machen. Ich ging auf den Friedhof bei der Kirche, schaute mir die Gräber an und realisierte, wie viele Leute jung gestorben waren. Ich sagte mir: Vielleicht ist das Leben doch kürzer, als man sich das vorstellt. Ich bin ins «Sauvage» zurückgegangen und habe Herrn Mausfeld informiert: Ich bleibe nicht, ich gehe. Ich fuhr nach Hamburg, wo Patti Smith ein Konzert gab, und von da an wars um mich musikalisch geschehen. Wir sind an der steilen Treppe zum Guggershörnli angekommen. «Hält das? Hast du eine Versicherung?», scherzt Eicher auf der Treppe und posiert für den Fotografen. Er sei, sagt er und verdreht ein wenig die Augen, noch nie so oft fotografiert worden. Im Gespräch sagt er immer wieder kokett: «Weisst du, ich war mal ein Rockstar.» So, als ob diese Zeit vorbei wäre.

Stephan, bist du gern Rockstar?
(Er überlegt.) Nein. Meine glücklichste Zeit als Musiker ist nicht, wenn ich exponiert bin. Heute zum Beispiel, bevor ich hierhergekommen bin, habe ich ein kleines Konzert fürs Schweizer Radio gegeben. Sie wollten mich laut ankündigen, à la: Jetzt kommt Stephan Eicher. Ich sagte Nein. Ich laufe einfach auf die Bühne, sage Grüessech miteinander, nehme meine Gitarre und spiele. Ohne Blitzlichtgewitter. Aber nachher, wenn ich Musik mache, möchte ich etwas Magisches schaffen, etwas, das die Leute berührt. Aber jetzt möchte ich nochmals auf Herrn Mausfeld zurückkommen.

Stephan Eicher

«Dieses Grün, viel Wald, viel Wiese, das weckt bei mir Heimatgefühle.» Stephan Eicher mit Guggisberg im Hintergrund.

Kurt Reichenbach

Was war denn mit Herrn Mausfeld?
Ich habe viele Jahre später im Hotel Belle Epoque in Bern gewohnt, unten in der Altstadt, am Nydeggstalden. Herr Mausfeld war jetzt Chef dieses Hotels und hat Jazzabende veranstaltet. Er war immer super glücklich, wenn Herr Eicher herunterkam. Weisst du, ich war mal ein Rockstar. Einmal war etwas an einer Anlage kaputt. Er fragte, ob ich helfen könne. Das Problem war schnell gelöst. Er kommentierte, es sei so toll, dass ich Musiker sei. Ich entgegnete: Ich sollte eigentlich Kellner werden, wissen Sie noch, im Hotel Sauvage in Meiringen? Er schaute mich lange an: Du bist dieser arrogante, gut aussehende Jüngling, der einfach abgehauen ist! Deine Eltern haben damals angerufen, und wir mussten beichten: «Er ist weg, wir wissen nicht wohin.» Nachdem er mir das erzählt hatte, haben wir gelacht und uns in die Arme genommen. Mich hat diese Geschichte wahnsinnig amüsiert.

Auf seinem Menü gebe es nicht viele christliche Ideen, sagt Stephan Eicher. «Aber das Prinzip des Verzeihens, das gefällt mir.» Seinen beiden Söhnen hat er zwei Dinge mit auf den Weg gegeben: «Sei pünktlich, das ist ganz einfach, du schaust einfach auf die Uhr. Sag freundlich Bonjour. Wenn du pünktlich bist und freundlich, bist du schon im Gespräch. Und das Zweite: Verzeihe! Wir haben keine Zeit, um nachtragend zu sein. Ich jedenfalls habe keine Zeit dafür.»

Stephan, wohin denkst du dich, wenn du dich wohlfühlen willst?
An den Hasliberg, an einen präzisen Ort, eine abfallende Wiese, wo ich mich gern hingelegt habe, ein bisschen eingeschlafen bin, den Duft des Heus in der Nase hatte, wo ein Bussard mich anschaute.

Auf dem Weg zurück ins Dorf machen wir halt auf dem Friedhof. Stephan Eicher, der später noch ins Welschland fährt, wo er im Moment lebt, hat in unserem Gespräch erfahren, dass hier meine verstorbene Grossmutter Jda liegt. «Ds Brösmeli» hat in meinem Leben eine tragende Rolle gespielt. Er selbst hat vor einem Jahr beide seine Eltern innert kürzester Zeit verloren. «Bei meinem Vater war es brutal. Es war der Höhepunkt von Corona, ich musste im Astronautenanzug zu ihm, er hatte sowieso schon Angst. Bei meiner Mutter hingegen war es richtig schön. Sie wollte noch ihre Fingernägel streichen, ein schönes Kleid anziehen, sie hatte Demenz. Wenn man lange nicht bei ihr war, ist sie in ihrer Welt entschwunden. Sie brauchte immer so eine Dreiviertelstunde, bis sie wieder da war. Wir haben zusammen Fotos angeschaut, Musik gehört, Schoggicreme gegessen oder Vermicelles, das hat immer geholfen. Ich konnte am Schluss lange nah bei ihr sein.»
In der Ferne klingen Kuhglocken. Ein Töffli rattert auf der Strasse vorbei ins Tal. Bevor Stephan sich auf den Heimweg macht, wollen wir noch kurz ins Vreneli-Museum, wo er sich ins Gästebuch eintragen wird. Doch erst zieht er nochmals sein Zeichnungsbüchlein hervor. Sein erstes hat er mit 17 Jahren im TGV begonnen. «Der Zug fährt so schnell, du siehst eine Kuh, dann wird aus ihre eine Fabrik, dann ein Wasserfall. Faszinierend.» Wie sagt Stephan Eicher: «Heimat kann auch bedeuten, unterwegs zu sein. Dein Quartier ist immer irgendwie dabei.»

Silvia Binggeli
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Von Silvia Binggeli am 2. Dezember 2022 - 15:35 Uhr