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Pflichtlager

Die Schatzkammern der Schweiz

Das ganze Land rätselt: Was, wenn uns Strom und Gas ausgehen? In sogenannten Pflichtlagern bunkern wir die wichtigsten Vorräte für Krisenzeiten. Wo sie sind, wie sie funktionieren und wer über sie herrscht.

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Pflichtlager Oel

Auf dem Rundgang: Martin Rahn, Leiter Technische Abteilung des Tanklagers in Mellingen AG.

Kurt Reichenbach

«Siehe, sieben Jahre kommen, da wird grosser Überfluss im ganzen Land Ägypten sein. Nach ihnen aber werden sieben Jahre Hungersnot heraufziehen: Da wird der ganze Überfluss im Land Ägypten vergessen sein und Hunger wird das Land auszehren.» 1. Buch Mose, Kapitel 41

In dieser bekannten Bibelgeschichte hat der Pharao Ägyptens eine Vorahnung: Eine Hungersnot wird kommen, er muss für sein Volk vorsorgen. Heute ist Guy Parmelin in der Rolle des Pharaos. Als Wirtschaftsminister ist er der oberste Wächter unserer Vorratskammern. Sie heissen Pflichtlager und sind im ganzen Land verteilt. Diese nationalen Notvorräte gibt es bereits seit den 1930er-Jahren. Nun sind sie aktueller denn je: Auf die Coronapandemie folgen Gasknappheit und Strommangel. Fehlt der Strom irgendwann wirklich, funktionieren weder Bankomat noch Migros-Kasse. Doch das Volk braucht Essen, Medikamente, Benzin.

Wer Pflichtlager in der Schweiz besucht, dem begegnen Begriffe wie «Explositiv», «Bedarfsdeckungsunterschreitung» und «Schwarzbesatz». Und Treppen, die gibt es in jedem Pflichtlager: Die Oberschenkel brennen ab der 20. Stufe, und der Notizblock vibriert, weil gerade Getreide durch die Rohre rast und der Boden wackelt.

 

Plichtlager Getreide

Auf dem Dach des Swissmill-Turms in Zürich steht die Skulptur eines Weizenproteingefüges.

Kurt Reichenbach
Getreide

90 Sekunden
So schnell flitzt der Lift des Swissmill-Turms in Zürich vom Erdgeschoss in den 21. Stock – Vorgabe der Feuerwehr.

6 Jahre
ist es her, seit der Turm auf die Mühle gebaut wurde – das höchste Getreidesilo der Welt.

3 Frauen
sind unter den sechs Lernenden, die gerade die Müller-Ausbildung machen.

In Zürich steht das Kornhaus von Swissmill. Diese Stadtmühle ist umzingelt von Bahngleisen, Autobahnzubringern und der Limmat. Der Fluss weist auf die lange Geschichte des Fabrikstandorts hin. «Wir arbeiteten aber nie mit dem Fluss», sagt Obermüller Flurin Balett, 36. Stattdessen kommen hier zwei- bis dreimal pro Tag Bahnwaggons an. Sie öffnen ihre Luken und lassen das Getreide in einen Schacht im Boden rieseln. Daraus werden einerseits 100 Sorten Mehle, Griesse und Flocken gemacht – und andererseits 40 000 Tonnen Getreide aufbewahrt: ein grosser Teil davon als Pflichtlager.

Im Innern der Mühle sieht man das Korn fast nie. Es wird in sogenannten Zellen aufbewahrt. Doch man riecht das Getreide – und man hört es! Durch unzählige Rohre und Maschinen donnert es. Flurin Balett spricht jetzt lauter: «Schwarzbesatz», erklärt er, «nennen wir Steine oder Holz, die wir aus dem Getreide sieben.»

Flurin Balett, Plichtlager Getreide

Skulptural: Obermüller Flurin Balett auf dem Verteilboden des Getreidesilos in Zürich.

Kurt Reichenbach

Wie organisiert man den Notvorrat für ein ganzes Land? In der Schweiz werden folgende Substanzen pflichtgelagert: Zucker, Reis, Öle, Weizen, Benzin, Dieselöl, Heizöl, Flugpetrol, Impfstoffe, Schmerzmittel, Beutel für Blut, Medikamente gegen Infekte bei Menschen und Tieren, Medikamente zur Vorbeugung und Linderung von Grippen, und – ja, sogar Kaffee haben wir auf die Seite geschafft.

Roy Siegenthaler, Leiter Alloga, Pflichtlager Medikamente

Bewahrt den Überblick: CEO Roy Siegenthaler am Firmensitz von Alloga in Burgdorf BE.

Kurt Reichenbach
Heilmittel

3 Fussballfelder
gross ist die Fläche der Pharmalogistik-Hallen von Alloga in Burgdorf BE.

-80 Grad
ist die Temperatur im kältesten Bereich, wo zum Beispiel Impfstoffe gelagert werden.

90 Millionen
Medikamentenpakete verschickt Alloga pro Jahr – im Schnitt 350 000 pro Tag.

Im Notfall könnten die Schweizerinnen und Schweizer drei Monate lang weiter Kaffee trinken, Pflichtlager sei Dank. All diese Substanzen werden aber nicht einfach ewig gelagert, sonst würden sie zu schnell verderben. Sie sind Teil des aktiven Wirtschaftskreislaufs: Was verkauft wurde, wird ersetzt – sodass immer genug in der Vorratskammer bleibt.

Roy Siegenthaler, Leiter Alloga, Pflichtlager Medikamente

«Wir arbeiten für die Gesundheit der Schweiz, darauf sind wir stolz»: Roy Siegenthaler im Pharmalogistik-Lager.

Kurt Reichenbach

In Mellingen AG stehen 25 zylindrische Tanks. In ihnen lagern Dieselöl, Benzin und Heizöl. Verantwortlich für dieses Pflichtlager ist die Carbura, deren Mitglieder flüssige Treib- und Brennstoffe in die Schweiz importieren – per Bahn, Schiff oder Pipeline. Die Arbeiter haben Rauchverbot, und private Handys sind im Tanklager nicht erlaubt. Es handelt sich hier um Gefahrgut. «Fällt ein Handy zu Boden, könnte seine Batterie einen Funken schlagen», erklärt Martin Rahn. Er ist 58 und Leiter der Technischen Abteilung bei Carbura.

Titus Kamermans, Geschäftsführer Tankanlage AG, Pflichtlager Oel

«Geht die Tankpumpe an, ist das Musik in unseren Ohren»: Martin Rahn ist Leiter der Technischen Abteilung bei Carbura, der Pflichtlagerorganisation für flüssige Treib- und Brennstoffe.

Kurt Reichenbach
Mineralöl

10 Millionen
Kubikmeter Benzin, Dieselöl, Heizöl und Flugpetrol verbrauchte man 2021 in der Schweiz. Damit liesse sich die Cheopspyramide viermal füllen.

4,5 Monate
reicht der Vorrat in den Pflichtlagern für Benzin, Dieselöl und Heizöl in der Schweiz.

1 Mal
pro Tag werden abends von Hand alle Ventile zugedreht, damit die Tanks nachts verschlossen sind.

Die unter anderem in Mellingen gelagerten Treib- und Brennstoffe sorgen dafür, dass Schweizerinnen und Schweizer jederzeit tanken und heizen können. Und: In den Tanks wird auch Heizöl für die Gasindustrie gelagert. «Viele Industriebetriebe und grössere Gasbezüger in der Schweiz können auf Heizöl umstellen, wenn das Gas knapp wird», sagt Rahn. «Diese Heizöl-Gasersatzlager werden von den Mitgliedern der Carbura für die Provisiogas gehalten und sind ein wichtiges Back-up für die Gasindustrie.»

Doch wer entscheidet, wann unser Vorrat überhaupt einmal angebrochen werden darf? Thomas Grünwald, 58, ist Sprecher des Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung BWL. Er hat viel zu tun, denn im Moment stellt sich das ganze Land jene Frage, die er sich von Berufs wegen jeden Tag stellt: Was wäre, wenn?

In einem ersten Schritt darf das BWL selbst bei Engpässen einen Griff in die Pflichtlager erlauben, im Umfang von bis zu 20 Prozent. Im Fachjargon heisst es dann jeweils: Die Pflichtlagerhalter unterschreiten die Bedarfsdeckung. Als Nächstes ist der Delegierte der wirtschaftlichen Landesversorgung zuständig. Der arbeitet – erstaunlich, aber wahr – in einem Teilzeitpensum von 40 Prozent. «Das wird sich in den kommenden Monaten ändern», sagt BWL-Sprecher Thomas Grünwald. Die Anforderungen an den Delegierten sind schlicht zu gross geworden.

Dieses Teilzeitpensum ist übrigens keine Sparmassnahme, sondern entspricht der Grundidee unseres ganzen Vorratssystems: Bund und Wirtschaft kümmern sich gemeinsam um die Pflichtlager. Deshalb ist der Delegierte kein reiner Staatsbeamter, sondern arbeitet zwingend auch in der Privatwirtschaft. Und deshalb werden alle Pflichtlager von Firmen betrieben, die nebenbei normal wirtschaften und ihre Produkte ein- und verkaufen.

Wenn nun ein Pflichtlager wirklich «freigegeben», das heisst, wenn nötig sogar ganz aufgebraucht werden darf, braucht es dazu das Einverständnis des Pharaos: die Unterschrift von Guy Parmelin.

Pflichtlager Reis

Im Pflichtlager von Gerhard Marty in Brunnen SZ lagern 8200 Tonnen Reis – das Gewicht von 82 Blauwalen.

Kurt Reichenbach
Reis

3 Jahre
darf der Reis in der Reismühle Nutrex aufbewahrt werden, bevor er verkauft werden muss.

100 000 Sorten Reis
gibt es weltweit. In Brunnen SZ werden über 70 Sorten verarbeitet.

2 Monate
würde der Vorrat der Reismühle Nutrex für den Bedarf der ganzen Schweiz reichen.

Das gilt auch für den Reis. Die Hälfte unseres Vorrats an dem «weissen Gold» liegt in der Reismühle Nutrex in Brunnen SZ. «Früher war unser Siloturm die Schande im Dorf», sagt Chef Gerhard Marty. Jetzt habe sich die Einstellung der Leute zum «Gebü» verändert. «Sie sind froh drum, denn sie wissen, dass wir etwas Wichtiges tun.»

Pflichtlager Reis

Gerhard Marty in seiner Reismühle in Brunnen SZ: «Der Name ist irreführend, Reis wird nicht gemahlen, sondern geschliffen.»

Kurt Reichenbach

Vor wenigen Jahren habe er gedacht, die Pflichtlager in der Schweiz würden bald aufgelöst. «Niemand schien den Nutzen davon zu sehen», sagt Gerhard Marty. Jetzt, angesichts von Strom- und Gaskrise, gehe es in die andere Richtung: «Es würde mich nicht überraschen, wenn wir unsere Pflichtlager bald sogar aufstocken.»

«Das Brotgetreide soll dem Land als Rücklage dienen für die sieben Jahre der Hungersnot, die über das Land Ägypten kommen werden. Dann wird das Land nicht an Hunger zugrunde gehen.»

Lynn Scheurer von Schweizer Illustrierte
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Von Lynn Scheurer am 16. Oktober 2022 - 08:09 Uhr