Stau, Lärm, Abgase, CO2-Emissionen und Verkehrsunfälle: Für die meisten Städte weltweit stehen diese Probleme weit oben auf der Traktandenliste. Einige hoffen, dass in Zukunft alles besser wird: wenn alle Autos autonom über Flüsterbeläge gleiten oder – noch besser – an Propellern durch die Lüfte surren.
Ursula Wyss (51) will ihre Hoffnungen nicht auf Drohnentaxis setzen. Die ehemalige SP-Politikerin – 14 Jahre im Nationalrat und acht Jahre in der Berner Stadtregierung – hat ein Buch darüber geschrieben, wie ausgerechnet eine 200 Jahre alte Erfindung die städtischen Verkehrsprobleme von heute lösen soll. «Velowende – für eine lebendige Stadt» heisst das Buch, das Mitte Mai erschienen ist.
Wyss, die als Chefin der Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün den Ausbau der Veloinfrastruktur entschlossen vorantrieb, schrieb das Buch zusammen mit dem Raum- und Verkehrsplaner Michael Liebi, dem Professor für Mobilitätsgeografie der Universität Lausanne, Patrick Rérat, und der deutschen Krimi- und Romanautorin Christine Lehmann.
Zu laut, zu gefährlich
Wir treffen Wyss und Liebi in Bern, um besser zu verstehen: Was stimmt denn nicht mit unseren Städten? «Kinder bewegen sich weniger, ältere Menschen vereinsamen in ihren Wohnungen. Wir gehen immer weniger raus, weil es draussen zu laut oder zu gefährlich ist», sagt Wyss. Das empfänden viele als normal, doch tatsächlich sei das nur eine von vielen Einschränkungen, verursacht durch das Privileg, mit dem Auto bis mitten ins Stadtzentrum hineinfahren zu können. «Wir sehen gar nicht mehr, was alles verloren geht», sagt Wyss.
Raum- und Verkehrsplaner Liebi ergänzt: «Wir haben unsere Siedlungsstrukturen in den letzten Jahrzehnten auf das Auto ausgerichtet. Die Menschen leben verstreut, immer weiter entfernt von den Zielen, die sie erreichen wollen. Und werden immer abhängiger vom Auto.» Wyss und Liebi sprechen vom «System Auto», dem der Anfang des Buches gewidmet ist. Und sie kommen zu einem Schluss, mit dem sie sich nicht nur Freunde machen werden: Ohne Reduktion des motorisierten Verkehrs werden sich die Städte nicht zum Besseren verändern.
Eine Welt ohne Autos?
Ein Autohasser-Buch also? «Nein. Autos werden immer wichtige Funk tionen übernehmen», sagt Wyss. Es gehe nicht um eine Welt ohne Autos, sondern um eine, in der möglichst alle mobil sein können, auch jene, die nicht Auto fahren können oder wollen. Das Problem sei, dass die Dominanz des Autoverkehrs andere Mobilitätsformen verdränge.
Tatsächlich hat sich das Wesen der Strasse im Laufe der Zeit dramatisch verändert. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es kaum Verkehrsregeln, jede und jeder durfte sich frei auf den Strassen bewegen: verweilen, Handel treiben, spielen – Verkehr war nur ein Zweck von vielen. Heute verstehen wir die Strasse als Verkehrsweg für Autos, die innerorts idealerweise mit 50 km/h fahren sollen. Das ist die Norm. Abweichungen gibt es, aber nur in Zonen mit klaren Grenzen: Fussgängerzonen, verkehrsberuhigte Zonen, Begegnungszonen, Tempo-30-Zonen. Hier dürfen Menschen ein bisschen mehr, Autos ein bisschen weniger.
Hoffnung auf zwei Rädern
Und warum soll ausgerechnet das Velo etwas am «System Auto» ändern können? «Das Velo ist nur ein Bau-stein einer lebenswerten Stadt, aber ein besonders wichtiger», sagt Liebi. Einerseits sei das Velo schnell, leise, gesund, preiswert und platzsparend. Es habe deshalb ein enormes Potenzial als Fortbewegungsmittel für kurze und mittlere Strecken. Andererseits ermögliche der Diskurs ums Velo, die wirklich wichtigen Fragen zu diskutieren: «Wie sollen unsere Städte aussehen? Und für wen gestalten wir sie?»
Eine abschliessende Antwort auf diese Fragen wird es nicht geben. Aber: Die Bewohnerinnen und Bewohner der Städte verlangen nach Veränderungen, nach lebenswerten öffentlichen Räumen. Volksabstimmungen, die mehr Platz für Zufussgehende und Velofahrende fordern, werden praktisch immer angenommen, manchmal mit 70 Prozent oder mehr Ja-Stimmen – und trotzdem würde heute kaum jemand sein zehnjähriges Kind alleine mit dem Velo zu Freunden fahren lassen.
Von Mythen und Zweifeln
«Velowende» sucht nach Antworten auf die Frage, warum der Anteil des Veloverkehrs in Schweizer Städten durchgehend unter 22 Prozent liegt. Es identifiziert den vielleicht grössten Irrtum der Veloförderung vergangener Jahre: die Idee, dass das Velo zusammen mit den Autos auf die Strasse gehört.
Das Buch liefert das fachliche Fundament, um Zweifeln und Mythen mit Argumenten zu begegnen. Es zieht erhellende Vergleiche zur Velostadt Amsterdam, die auch mal eine Autostadt war. Und zu Paris, wo jetzt im Zeitraffer passiert, was in den Niederlanden 40 Jahre gedauert hat. Es ist nicht das einzige Buch dieser Art, aber die Vielfalt der Autorinnen und Autoren macht es ziemlich einzigartig. Es verbindet die Kompetenzen aus Verkehrsplanung und Wissenschaft mit den Erfahrungen einer Exekutivpolitikerin, die so ziemlich jede Hürde, die sich dem Wandel entgegenstellen kann, aus eigener Erfahrung kennt. Und das alles übersetzt und illustriert für ein Laienpublikum – oder: übersetzt für jenen exklusiven Leserkreis, der die Regierenden wählt.
Die vielleicht wichtigste Erkenntnis der Lektüre lautet: Wer andere Prioritäten in der städtischen Verkehrspolitik will, muss sich selbst dafür einsetzen. Man kann nicht warten und hoffen. Weder auf die Politik noch auf Drohnentaxis.