Mehrere Männer graben in Adıyaman mit blossen Händen Schutt zur Seite und finden 45 Stunden nach dem Beben ein zehnjähriges Mädchen. Es lebt!
Eine Frau hört in Antakya die Rufe ihrer 70-jährigen Mutter unter den Trümmern, doch die Betonplatte ist zu schwer. Wie lange lebt sie noch?
Ein Vater sitzt in Kahramanmaraş in den Ruinen seines Hauses und hält die Hand seiner 15-jährigen Tochter. Sie lebt nicht mehr.
Häuser, Städte und Hoffnungen stürzen in der Südtürkei und in Nordsyrien zusammen wie Kartenhäuser. In der Nacht von Sonntag auf Montag reisst um 4.17 Uhr ein Erdbeben der Stärke 7,8 Tausende Menschen aus dem Schlaf und katapultiert sie direkt in einen Albtraum. Die Erde rüttelt weniger als 40 Sekunden – und zerstört unzählige Leben für immer. Die Zahl der Opfer steigt ununterbrochen, genauso wie Nachbeben die Region heimsuchen. Zehn Städte und unzählige Dörfer auf einer Länge von 400 Kilometern liegen in Schutt und Asche.
80 Spezialistinnen und 14 Suchhunde
Vier Stunden nach dem Beben klingelt das Telefon von Silvia Dummermuth in Thierachern BE. Die Ärztin ist mit ihrem Golden Retriever Merida (5) Hundeführerin bei Redog, dem Schweizerischen Verein für Such- und Rettungshunde. «Ab da ging alles schnell», sagt sie. Innerhalb kurzer Zeit muss sie packen, ihren Arbeitgeber informieren und nach Zürich reisen. Wie lange sie weg sein wird, weiss sie nicht. Sie muss mit bis zu zehn Tagen rechnen.
Die Schweiz schickt am Montagabend 80 Spezialistinnen und Spezialisten und 14 Suchhunde mit einem Linienflug und einem Ambulanzjet der Rega in die türkische Stadt Adana – und von dort aus weiter in das Katastrophengebiet. «Ich bin nervös, weiss nicht so genau, was mich erwartet», sagt Silvia Dummermuth kurz vor dem Abflug in die dunkle Nacht.
Verzweiflung und Erleichterung liegen nah beieinander
Am ersten Tag nach dem Beben wird das Ausmass der Tragödie langsam sichtbar. «Es ist, als wären wir in der Hölle aufgewacht», sagt Osman Can Taninmis der Nachrichtenagentur AP. Seine ganze Familie ist noch verschollen in den Trümmern von Hatay, der am stärksten betroffenen Provinz der Türkei. «Wir können überhaupt niemanden erreichen. Alles ist zerstört.» Angehörige berichten, dass sie immer wieder Schreie und Klopfen aus den Ruinen hören.
Hilfeschreie gelangen auch über Social Media in die ganze Welt. Eine Frau postet ein Foto von sich in ihrer Falle aus den Trümmern auf Twitter. Darunter schreibt sie: «Rettet mich.»
Das Team von Redog trifft am Dienstag in der türkischen Hafenstadt İskenderun ein. Der Einsatzleiter klärt ab, welche Gebiete die Hunde absuchen sollen. Die Hundeführerinnen und Hundeführer geben ihren Tieren ein Kommando, und sie schnüffeln selbstständig in den Ruinen nach Fährten. Jeder Hund kann 20 Minuten konzentriert suchen, danach braucht das Tier etwa 40 Minuten Pause. «Wenn ein Hund bellt, heisst das, hier liegt jemand begraben», sagt Silvia Dummermuth. Sobald sie das Bellen hören, strömen die Angehörigen zu den Ruinen und warten darauf, was die Rettungskräfte finden. Holen sie eine Leiche aus den Trümmern? Oder atmen ihre Liebsten noch? «Mein Team und ich haben leider nur tote Menschen gefunden», sagt Dummermuth nach dem ersten Tag.
Doch Verzweiflung und Erleichterung liegen nah beieinander. Ein anderes Team von Redog kann an diesem Tag vier Menschen in unmittelbarer Nähe aufspüren – und retten.
«Für viele Menschen fühlt sich diese Katastrophe an wie das Ende der Welt»
Für die Menschen auf der syrischen Seite des betroffenen Landstrichs mutet das Erdbeben wie die Apokalypse an. Seit zwölf Jahren herrscht Krieg im Land, und die Region in Nordsyrien ist der Schmelzpunkt eines verheerenden Gemenges unterschiedlicher lokaler und globaler Machtspiele. Hier verschanzen sich kriegerische Rebellengruppen und IS-Kämpfer, hier leben Kurdinnen und Kurden, die von der Türkei und von Russland verfolgt und bekämpft, von den USA hingegen unterstützt werden. Immer wieder kommt es zu Bombenangriffen der Türkei und Russlands, Strassen sind zerstört, die Infrastruktur ist inexistent.
Vom Erdbeben besonders hart getroffen wurden die nordsyrischen Städte Aleppo und Idlib – zwei bereits im Krieg zerbombte Orte, die kaum erreichbar sind und deren geschundene Bewohnerinnen und Bewohner sich einmal mehr selber helfen müssen. «Für viele Menschen fühlt sich diese Katastrophe an wie das Ende der Welt. Sie haben alles verloren – geliebte Angehörige, ihr Dach über dem Kopf, alles», sagt die syrische Lokalreporterin Sarah Kassim gegenüber dem ZDF.
«Wir werden frierend wegen der Kälte sterben»
Eine eisige Kälte und eine dünne Schicht Schnee liegen über den Ruinen der türkischen Stadt Nurdağı. Minustemperaturen und Verzweiflung machen sich in den Strassen breit. Viele Menschen schlafen in ihren Autos –wenn sie Glück haben. Oder auf dem Boden, weil sie nichts mehr haben – ausser der Angst vor Nachbeben. «Wir haben kein Zelt, keinen Heizofen, wir haben nichts! Unseren Kindern geht es schlecht. Wir werden alle nass im Regen. Unsere Kinder sind draussen in der Kälte», sagt Aysan Kurt, 27. «Wir sind nicht an Hunger oder wegen des Erdbebens gestorben. Aber wir werden frierend wegen der Kälte sterben. So sollte das nicht sein. Niemand schickt Hilfe.»
Internationale Organisationen rechnen mit 20 000 Toten. Bereits jetzt brauchen 250 000 Menschen dringend Hilfe. Aus aller Welt sind 60 000 Helferinnen und Helfer vor Ort im Einsatz. Die internationale Solidarität ist riesig. Aber die massive Zerstörung und das betroffene Gebiet sind derart gross, dass die Hilfe wie ein Tropfen auf den heissen Stein erscheint. Jeden Tag werden mehr Menschen tot geborgen, jeden Tag mehr Leichen in Tücher eingewickelt und betrauert.
Wie nah Leben und Tod im Katastrophengebiet beieinanderliegen, zeigt eine Meldung aus einer syrischen Kleinstadt. Hier retten Menschen aus den Trümmern eines vierstöckigen Wohnhauses ein neugeborenes Baby. Die Mutter ist tot, genauso wie Vater, Schwestern, Bruder und Tante. Die Kleine ist sieben Stunden alt. Sie wird ins Krankenhaus in Afrin gebracht. «Sie wurde mit vor Kälte starren Gliedern eingeliefert, ihr Blutdruck war gefallen», sagt der zuständige Arzt der Nachrichtenagentur AFP. «Wir haben Erste Hilfe geleistet und ihr Infusionen gegeben, weil sie lange keine Milch bekommen hatte.» Sie wird leben.