Monsieur Gress, wie gefallen Ihnen die Spiele dieser EM?
Ich habe ein paar Begegnungen gesehen, zum Beispiel die Spiele von Frankreich, England, der Schweiz, Islands und Norwegens. Mehr noch als von den Matches bin ich von der Begeisterung des Publikums überrascht. Die Stadien sind voll, und es ist eine grosse Spannung spürbar, das ist toll.
Die Fanmärsche waren beeindruckend, vor allem der Rekordmarsch durch Bern.
Diese Euphorie, diese Ambiance ist auch in meinem Freundeskreis hier in Frankreich ein viel diskutiertes Thema. Man ist allgemein überrascht, dass die Schweiz imstande ist, so ausgelassen zu feiern. Die EM ist in allen Bereichen eine positive Überraschung, das muss man schon sagen. Man hat den Eindruck, sie reisst das ganze Land mit. Die Schweiz ist ja sonst nicht gerade dafür bekannt, die grössten Zuschauermassen Europas zu mobilisieren, auch im Herrenfussball nicht.
Wie ein Tatzelwurm! Der Fanmarsch am Aargauerstalden Richtung Stadion Wankdorf in Bern.
Claudio de Capitani/freshfocusWas ist Ihnen aufgefallen, was lief bei den Spielen, die Sie gesehen haben, besonders gut, wo sehen Sie Korrekturpotenzial?
Ich würde jetzt nicht sagen, dass alles perfekt war. Aber vor allem sollte man aufhören mit den ständigen Vergleichen. Herren- dem Damenfussball gegenüberzustellen, ist so unsinnig, wie zu fragen, ob nun Maradona der Bessere war oder Pelé.
Haben Sie spezielle Schwachstellen bemerkt?
Die Schweizerinnen spielten fantastisch, hatten aber etliche vermeidbare Ballverluste. Der Match gegen Island war spannend. 0:0, 1:0, dann fiel das Tor zum 2:0, und das Publikum war glücklich. Das ist das Schöne am Fussball. Bis zum Schlusspfiff bleibt alles offen, es ist alles mög- lich, auch in der 90. Minute kann man noch ein oder sogar zwei Tore schiessen.
Hat Ihnen ein Spiel in dieser EM bisher besonders gefallen?
Schwer zu sagen. England gegen Frankreich zeigte ein beachtlich hohes Niveau. Die Schweiz gegen Island wurde gegen Ende hervorragend: Reuteler trifft in der 76. und Pilgrim in der 90. Minute. Das sind Emotionen!
Haben Sie schon eine Favoritenmannschaft?
England und Frankreich sind meine Favoriten. Und da ist ja noch Spanien, sehr stark, hervorragende Spielerinnen. Aber eben, im Fussball gibt es immer Überraschungen, da habe ich schon manches erlebt.
Welche Spielerinnen sind Ihnen besonders aufgefallen?
Bei den Schweizerinnen Sydney Schertenleib. Vor allem weil sie, wie soll ich sagen, ein bisschen eigensinnig gespielt hat. Ich denke da an eine bestimmte Aktion, als eine Mitspielerin neben ihr frei war, aber statt abzugeben, hat sie aufs Tor geschossen. Da hätte ein Pass kommen müssen. Andererseits spielte sie später hervorragend.
Grosse Freude beim ersten EM-Sieg gegen Island. Géraldine Reuteler (r.) erzielt den Führungstreffer und jubelt mit Iman Beney.
Toto MartiGeben Sie dem Frauenfussball jetzt nach dieser EM grosse Zukunftschancen?
Die Zukunft ist ja schon da! Die Stadien sind voll. Mehr als voll kann man sie nicht mehr machen. Ich persönlich bin etwas überrascht von diesem wahnsinnigen Interesse. Lassen wir uns überraschen, was noch kommt.
Die Frisuren sind ein grosses Thema an dieser EM.
Ja, da sind mir einige auch aufgefallen. Die zwei, drei Damen mit überlangen Haaren würde ich zuerst zum Friseur schicken, sonst kämen sie bei mir nicht ins Kader. Wie kann man damit Sport machen? Das ist mir unverständlich.
Inwiefern sollten die Haare beziehungsweise die Frisur der Spielerinnen ein Problem sein?
Ich erinnere mich an ein Tor, das der Deutsche Uwe Seeler an einer Weltmeisterschaft schoss – mit seinem Hinterkopf! Bei so vielen Haaren am Hinterkopf hat der Ball gar keine Kraft mehr, den bringen Sie nicht ins Tor. Das ist nicht ideal.
(… längeres Schweigen auf beiden Seiten …)
Gut, wenn eine dieser Damen in jedem Spiel drei Tore schiesst, darf sie die Haare behalten.
Die islandische Stürmerin sveindis Jonsdottir nervte mit dem Putzritual am Ball und erstaunt Fussballikone Gress mit ihrer Frisur.
DukasDank dieser EM träumen nun viele junge Mädchen von einer Fussballkarriere. Ist das eine realistische Vorstellung?
Als wir 1979 mit Strasbourg französischer Meister wurden, beantragten 25 bis 30 Prozent mehr junge Spieler eine Lizenz. Erfolg reisst mit, Publizität animiert. Möglich, dass nun 20, 30 Prozent mehr junge Mädchen Fussballerinnen werden wollen – vielleicht ist darunter dereinst die beste Spielerin der Welt.