Bianca Pestalozzi, 32, ist eine Frühaufsteherin. Auch weil sie vor der Arbeit gern noch eine Runde Sport macht. «Heute war ich um sechs Uhr wach, um zu rennen und in der Limmat zu schwimmen. So in den Tag zu starten, gibt mir unglaublich viel Energie», erzählt die Europa-Leiterin des Schweizer Sportschuhherstellers On bei einem Iced Coffee. Diesen braut ihr ein Weltmeister-Barista im cool-minimalistischen Eingangsbereich der Firma in Zürich-West.
Anfang Juni sind Pestalozzi und die rund 650 Angestellten in der Schweiz in den neuen Firmenhauptsitz gezogen. On Labs nennen sie den Innovationscampus, die entsprechende Leuchtschrift flackert über der Lobby. Das 17-stöckige Hochhaus hat Platz für 1000 Teammitglieder – momentan sind die obersten Stockwerke vermietet. Doch so schnell, wie die Marke wächst – alle 18 Monate verdoppelt die Firma ihre Belegschaft –, sind die oberen Etagen wohl bald Teil des «Oniversums».
Feste Arbeitsplätze gibts auch für Geschäftsleitungsmitglieder wie Pestalozzi keine, dafür Wendeltreppen aus Beton, welche die verschieden gestalteten Ebenen – Villages (Dörfer) genannt – mit ihren von Vitra ausgestatteten Begegnungszonen verbinden. «Wir mögen dieses Offene, so mischen sich die Teams», sagt Pestalozzi und setzt sich mit ihrem Laptop auf die Treppe, wo sie zwischen Meetings Mails checkt.
Mit On hat die Schweiz erstmals seit Swatch wieder eine Marke mit globaler Strahlkraft. Roger Federer, Botschafter und Investor bei On, trägt die Schuhe mit der Cloud-Technologie (weiche Landungen, explosive Abstösse) genauso wie First Lady Jill Biden oder Hollywood-Star Leonardo DiCaprio.
Trotzdem sorgte das 2010 von drei Zürcher Freunden gegründete Unternehmen unlängst für kritische Schlagzeilen. Grund sind die Millionenvergütungen der inzwischen fünfköpfigen On-Spitze. Doch dazu später.
Pestalozzi ist seit April bei On Generalmanagerin für das Europa-Geschäft und führt rund 250 Mitarbeitende, «ohne Millionenlohn», wie sie mit einem entwaffnenden Lächeln hinzufügt. Davor hat sie rund drei Jahre von Schanghai aus den gesamten asiatischen und australischen Markt aufgebaut und verantwortet. «Mein Mami ist sehr happy, dass ich wieder in der Schweiz bin», sagt die Zürcherin, die in Meilen am Zürichsee aufwuchs. Der Hauptgrund, warum sie wieder in der Schweiz ist, sei aber ihr Partner, der im Fintec-Bereich arbeitet und mit dem sie schon seit elf Jahren zusammen ist. «Die Pandemie machte das Reisen aus China unglaublich schwierig», sagt die studierte Ökonomin, die in Asien dreimal in einem Hotel in Quarantäne musste.
Grundsätzlich hätte es ihr Spass gemacht, den Job in China – sie spricht gut Chinesisch – noch etwas weiterzuführen. «Weil es extrem spannend ist, eine Schweizer Technologie aufzubauen. Und weil ich die Einstellung der Chinesen zum Leben mag: der Glaube daran, das alles möglich ist.»
«Wie crazy wäre es, wenn wir mit diesem komisch aussehenden Schuh die Welt erobert könnten.»
Bianca Pestalozzi
Dieses Träumen – «dream on» ist das Firmenmotto von On – verbindet viele, die beim Laufschuhhersteller arbeiten. Dazu passt, dass das Durchschnittsalter in der Firma bei jungen 33 Jahren liegt. Bianca kommt ins Träumen während ihres Studiums an der HSG in St. Gallen. Dort absolviert sie 2009 ein Seminar bei On-Gründer und HSG-Professor Caspar Coppetti. Dieser kommt damals mit dem Prototyp des ersten On-Schuhs und den originalen zerschnittenen Gartenschlauchelemen-ten in den Saal und fordert die Studenten auf, ein Produkt- und Marketingkonzept zu entwickeln. Pestalozzi, die mit 20 Jahren mit Rennen startete, ist fasziniert: «Ich dachte, wie crazy wäre es, wenn wir mit diesem komisch aussehenden, aber super innovativen Schuh aus der Schweiz die Welt erobert könnten.»
Sieben Jahre später macht Pestalozzi – inzwischen als Beraterin für McKinsey tätig – ihren MBA in Hongkong und kommt erneut ins Träumen. «Ich war überzeugt: Die Schweizer Sportschuhe müssten doch auch auf dem chinesischen Markt ankommen!» Sie kontaktiert die On-Führung, schreibt gemeinsam mit diesen den ersten Businessplan – zwei Jahre später sitzt sie in einem vier Quadratmeter kleinen Büro in Schanghai und startet mit zwei Kollegen das China-Business. Heute sind rund 100 Personen für den asiatischen Markt tätig.
«Einfach mal probieren und ein Risiko eingehen», das sei typisch für On. So rechtfertigt Pestalozzi auch die Millionenvergütungen ihrer Chefs. «Sie haben damals ihr gesamtes Vermögen in die Firma investiert und sind sehr hohe Risiken eingegangen. Hinzu kommt, dass ein grosser Teil der Kompensation noch heute in Aktien steckt, die im Unternehmen bleiben.» Auch alle Angestellten hätten Anteile erhalten. «Den Gründern und der Geschäftsleitung ist wichtig, den Erfolg zu teilen.» Die Zahlen seien intern offen kommuniziert und diskutiert worden – durchaus kontrovers. «Das ständige Hinterfragen ist Teil unserer Firmenkultur.»
Dass bei On ein anderer, internationaler Groove herrscht, spüren alle, die das Gebäude betreten. Junge Menschen mit On-Schuhen und kurzen Hosen holen sich ihren Kaffee, gesprochen wird Englisch, zur Begrüssung gibts Umarmungen und überall ein freundliches Lächeln. «Die grösste Herausforderung ist, bei dem Wachstum die Firmenkultur zu behalten», sagt Head of Talent Noa Perry-Reifer, 36, als sie sich mit Pestalozzi und Supply-Chain-Managerin Jiahui Yin, 36, mittags zu einem für On typischen Run trifft.
«Während viele Firmen, die wachsen, immer mehr Regeln einführen, machten wir das Gegenteil», sagt die Israelin Perry-Reifer. Über ihre Ferientage etwa können die Angestellten selber entscheiden. Und auch über die Arbeitszeiten: «Wenn ich um 16 Uhr zu mei-ner Familie will, ist das okay», sagt die zweifache Mutter Yin, die seit sieben Jahren bei On arbeitet. «Anfangs gab es in der Geschäftsleitung keine Frau – das ist heute zum Glück anders», so die gebürtige Chinesin, die mit einem Schweizer zusammen ist. Die Hälfte der 14-köpfigen On-Führungsetage ist inzwischen weiblich, auch im gesamten Unternehmen arbeiten 50 Prozent Frauen – ohne starre Quote.
Wenn Pestalozzi nicht für On in Europa Partner besucht, ist sie am liebsten draussen beim Sport. «Ich besitze neben Sandalen tatsächlich nur On-Schuhe», sagt sie und grinst. Sie müsse ja die Produkte, über die sie mit den Kunden spreche, im Detail testen. Seit dem 1. Juni gibt es im Erdgeschoss des neuen Firmensitzes den ersten On-Flagship-Store in Europa. Beim Besuch funktioniert zwar die Klimaanlage noch nicht einwandfrei, dafür läuft die Soundanlage. Anders als in Asien, wo Pestalozzi die Marke bekannt machen musste, gehe es in Europa darum, mit neuen und bestehenden Partnern zu wachsen und Innovationen voranzutreiben. «Die Fan-Base ist hier schon toll.»
Und doch – der Aktienkurs ist im Keller. Seit Börsenstart im September hat die Aktie 28 Prozent an Wert verloren. «Wir orientieren uns am Um-satz – und der wächst.» Dieses Jahr will On die Milliarden-Umsatzgrenze knacken. Für Pestalozzi wichtig ist noch eine andere Kennzahl: der shoe count. «Wenn ich renne, dann meist mit dem Kopf leicht nach unten, damit ich zählen kann, wie viele Leute On an den Füssen tragen!» In der Schweiz liege man da bei guten 10 bis 15 Prozent.