Tapering! Es ist das Zauberwort, das auch Noè Ponti (23) im Hinblick auf die Olympischen Spiele in Paris umtreibt: «Jetzt bin ich in Form – aber der Zustand ist noch nicht ausgereizt.» Tapering? Der Begriff beschreibt die letzte Phase vor einem Wettkampf-Höhepunkt, in der es darum geht, die persönliche Form auf den Punkt hin zu optimieren. Die persönliche Spitzenform! Diese will Ponti am 2. und 3. August erreichen, wenn in der Paris La Défense Arena, einer zum Schwimmstadion umfunktionierten Rugbyanlage, der Wettkampf über 100 Meter Schmetterling stattfindet – jener Disziplin, in der Ponti vor drei Jahren in Tokio die Bronzemedaille gewonnen hat.
Noch sitzt Ponti entspannt in Dietikon ZH, wo der letzte Medientermin vor dem olympischen Abenteuer stattfindet. Der 23-jährige Tessiner ist bestens gelaunt. Braun gebrannt, lässig, immer mit einem Lächeln im Gesicht – und mit dem Selbstbewusstsein des Champions: «Ich habe in den letzten Wochen gut trainiert und gute Resultate erzielt. Und ich bin besser als vor drei Jahren.»
Dreimal Gold von den Europameisterschaften 2023 hat er schon
Ponti hat seither acht Medaillen an Grossanlässen gewonnen – darunter dreimal Gold an den Kurzbahn-Europameisterschaften 2023 in Rumänien. Fast noch wertvoller das Silber über 100 Meter Schmetterling an der EM 2022. Die jugendliche Unbekümmertheit hat er bewahrt. Und dennoch ist er nicht mehr der gleiche Athlet wie an seiner olympischen Premiere. Die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit und die Ansprüche seien heute viel höher: «Die Leute sehen mich mit anderen Augen.» Vor allem im Tessin sei das so – in seinem Heimkanton, wo die internationalen Stars dünn gesät sind und Sportchampions noch enthusiastischer gefeiert werden als in den anderen Landesteilen.
Die Heimat im Tessin, die Freundin in Zürich
In der Gegend von Locarno ist Noè Ponti stark verwurzelt. In Gambarogno, der Gemeinde am Ufer des Lago Maggiore, befindet sich sein Lebensmittelpunkt. Hier wohnt seine Familie, die sich bis vor Kurzem um alle Management-Angelegenheiten kümmerte: Mutter Vittoria um die Finanzen, Vater Mauro um die Bereiche Kommunikation und Sponsoring und Schwester Asia um Interviewanfragen und die Webpage. Zwar legt Noè Wert darauf, dass die Familie noch immer integraler Bestandteil des Teams sei und in jeder Frage das letzte Wort habe, doch irgendwann sei der ganze Aufwand zu gross geworden. So kümmert sich nun die Agentur Abrogans um die geschäftlichen Bedürfnisse von Ponti. Dort ist der Schwimmer in bester Gesellschaft. Auch Ausnahmeathleten wie Marco Odermatt (26, Ski), Simon Ehammer (24, Leichtathletik) oder Schwingerkönig Joel Wicki (27) vertrauen dem Unternehmen.
«Es ist ein Privileg, das zu machen, was ich liebe»
Aber zurück ins Tessin. Hier spult Noè Ponti die Trainingskilometer im nationalen Leistungszentrum in Tenero ab: «Es ist ein Privileg, das zu machen, was ich liebe», sagt er zu seiner Motivation. Und wenn es beim gelegentlich etwas eintönigen Training langweilig werde, lässt er die Gedanken schweifen, freut sich aufs Wochen-ende – oder trällert einen Rap von Eminem: «Lose Yourself» möge er besonders. Vor drei Jahren in Tokio hätte aber alles anders kommen sollen. Da war das Centro Sportivo in Tenero plötzlich weit weg. Nach seinem Medaillen-Coup wollte Noè an der North Carolina State University in den USA Fuss fassen. Doch bald habe er realisiert, dass er nicht am richtigen Ort war. «Ich bin ein Charakter, der gern lacht und Spass hat. Aber in den USA verlor ich mein Lachen.» Gleichwohl sagt er: «Ich bin glücklich, dass ich es versucht habe. Aber ich bin auch sehr froh, dass ich wieder zurückgekehrt bin.» Das Tessin sei der Ort, an dem er Kraft schöpfe: «Hier habe ich alles, was ich brauche, meine Familie, meine Trainer und mein Schwimmbad.»
Die ganze Wahrheit ist dies allerdings nicht mehr. Seit Ponti mit der Zürcherin Helena Harrison liiert ist, liegt ihm der Grossraum Zürich emotional viel näher als früher. Helena wird auch in Paris zu seinem Fanklub gehören. Ponti freut sich schon jetzt über den Support von der Tribüne: «Die ganze Familie wird mich in Paris unterstützen – auch meine Onkel und Cousins.» Bei dieser Ausgangslage kann eigentlich nichts mehr schiefgehen – schliesslich hat die Vergangenheit gezeigt: Noè Ponti ist dann am besten, wenn seine Liebsten ganz nah am Bassinrand sind.