Oben auf dem Pass steht ein grosses Haus. Allein, aber gleichzeitig voller Leben. In der kleinen Bar im ersten Stock serviert Daniel Salzgeber (62) einem Gast eine Tasse Kaffee. «Unser Simplon-Hospiz ist einer der wenigen Orte, an dem man mit Ordensleuten wie mir in Kontakt kommt.»
Diese Ordensleute haben einen langen Namen: Augustiner-Chorherren des Grossen Sankt Bernhard. Sie gehören zu weltweit 10'000 Personen, die nach der Regel des heiligen Augustinus leben. Ebenfalls einer von ihnen: der im Mai gewählte Papst Leo XIV (69). Die Augustinerregel ist die älteste Ordensregel des Abendlandes. Und sie lässt sich auf vier Punkte herunterbrechen.
Erstens: Gehorsam
«Der Bischof von Sitten hat uns hier nichts zu sagen», stellt Salzgeber fest und nimmt – immer noch in der «Pastoral-Bar» – einen Schluck seines Leibgetränks, Rivella grün. «Unser Orden ist direkt dem Vatikan unterstellt.» Seit 16 Jahren lebt er im Simplon-Hospiz, gemeinsam mit vier Mitbrüdern. Er ist der Prior, also der Hausherr. «Die Papstwahl haben wir im Fernsehen geschaut», erinnert er sich. «Im ersten Moment schluckte ich leer. Ein Amerikaner! Ich befürchtete einen Konservativen.» Doch Papst Leos erste Rede beruhigte den Oberwalliser. «Natürlich habe ich mich gefreut, dass es ein Augustinerordensmann geworden ist! Und dass er auf dem Weg seines Vorgängers, Papst Franziskus, bleiben will.» Alles andere, so Salzgeber, wäre für ihn ein Rückschritt gewesen.
Daniel Salzgeber ist ein Augustiner-Chorherr. Der Begriff kommt vom gemeinsamen Beten zu bestimmen Tageszeiten, dem Chorgebet.
Kurt ReichenbachSowohl der Papst als auch Daniel Salzgeber befolgen die Regeln des Augustinus. Der Heilige lebte im vierten Jahrhundert im heutigen Algerien. Zu seinen Vorgaben gehört Keuschheit ebenso wie das regelmässige Gebet. Daniel Salzgeber steht auf – es ist Zeit für eine Hausführung.
Zweitens: Armut
Es war Napoleons Befehl, ein Haus auf diesem Pass zu bauen, eine Kaserne für die Soldaten. Als er ins Exil verbannt wurde, übernahmen die Augustiner das Projekt und bauten das Hospiz, damals das grösste Haus der Alpen, 1831 fertig. Daniel Salzgeber steigt die abgewetzten Steinstufen hoch. Kinder und Erwachsene kommen ihm entgegen, ihre Stimmen hallen durch die Gänge. Je weiter man im Hospiz nach oben geht, desto niedriger werden die Decken. «Damit man dieses grosse Haus überhaupt heizen kann», sagt Salzgeber. Im dritten und vierten Stock ist die Klausur, jener Teil des Hauses, in dem die Geistlichen wohnen. Der Gang ist fast dunkel – «Sparmassnahmen».
Vor dem Zmittag wird gesungen. Gäste aus aller Welt kommen auf den Simplon.
Kurt ReichenbachAugustiner sollen keinen privaten Besitz haben, sondern ein einfaches Leben führen. «Bleibt anspruchslos!», schreibt die Regel vor. Der Orden hat eine Gemeinschaftskasse. Was Daniel Salzgeber im Hospiz einnimmt (ein Gästebett im Viererzimmer kostet 55 Franken), fliesst in diese Ordenskasse. Ein Dutzend Angestellte kümmern sich um die Küche und um die Zimmer, die schlicht und einfach gehalten sind. Manche Gäste kommen hierher, um auszufliegen (Wanderer oder Skifahrer). Andere kommen hierher, um in sich zu gehen: Schulklassen, die zu Exerzitien kommen. Das sind geistliche Übungen, auch «Einkehrtage» genannt. Oder Jugendliche, die sich auf ihre Firmung vorbereiten.
In dieser Woche sind Familien hier, die an einem religiösen Lager teilnehmen. Und Botaniker aus Deutschland, welche die Pass-Pflanzen untersuchen. «Wir können 120 Menschen aufnehmen und haben 18'000 Übernachtungen pro Jahr», sagt Salzgeber.
Drittens: brüderliche Ermahnung
Treffen sich zwei Jesuiten, zwei Augustiner und ein Priester zum Zmittag – dann gibts Älplermagronen mit Apfelmus. Ein kleiner Warenlift befördert das Menü aus der Küche hoch zum Speisesaal für die Geistlichen im vierten Stock. Nach dem Essen entspinnt sich eine Diskussion über den sexuellen Missbrauch in der Kirche. «Wir müssen den Opfern beistehen, und es ist richtig, dass die Täter endlich zur Rechenschaft gezogen werden», sagt Salzgeber. «Aber es ist leider auch so, dass heutzutage jemand schnell als schuldig gilt, sobald ein Verdacht auftaucht.»
Im Gespräch: Gastgeber Salzgeber (r.), sein Mitbruder Frédéric Gaillard (Mitte) und Besucher des Hospizes.
Kurt ReichenbachEiner der Jesuiten erzählt, dass er extra die Tür offen lässt, wenn ein Kind bei ihm die Beichte ablegt. Und der Priester gibt an, mit Jugendlichen bei der Seelsorge nicht über das Thema Pornografie zu sprechen, das sei ihm zu heikel.
Und was sagt Leo XIV., der erste Augustiner, der Papst wurde? Er hat dazu aufgefordert, «in der ganzen Kirche eine Kultur der Vorbeugung zu verwurzeln, die keinerlei Form von Missbrauch duldet». Sein Bild hängt in der Sakristei, einem Nebenraum der Kirche. «Was er sagt, hat Einfluss», sagt einer der Jesuiten.
Viertens: das Gebet
In der Kirche breitet sich Stille aus. Vor dem Mittagessen hatten die Glaubensbrüder hier auf Französisch gesungen und gebetet. Sie tun es viermal pro Tag, immer zu den gleichen Zeiten. Nun sind nur leise Glocken zu hören, ein paar Kühe grasen vor den Fenstern. «Diese Kirche ist eine von nur dreien weltweit, deren Mobiliar im napoleonischen Empire-Stil gebaut wurde», erzählt Daniel Salzgeber. «Deshalb kommen auch Kunstgeschichte-Studenten zu uns.»
Das Haus auf dem Simplon hat eine lange Geschichte. Und eine lebendige Gegenwart: Vor wenigen Tagen kam eine Gruppe Autofahrer auf den Pass, um sich und ihre Boliden von Daniel Salzgeber segnen zu lassen.
Doch was ist mit der Zukunft? Den Augustiner-Chorherren vom Grossen Sankt Bernhard gehen die Mitglieder aus. Bei Daniel Salzgebers Eintritt waren es 90, jetzt sind es noch 20. Wer kümmert sich um das Hospiz, wenn er es nicht mehr kann? Darauf angesprochen, zeigt er schmunzelnd nach oben, gen Himmel. «Das entscheidet der da oben.»
Daniel Salzgeber in seinem Zimmer. Der Plüsch-Bernhardiner verweist auf das Hospiz auf dem Grossen Sankt Bernhard, das Mutterhaus des Ordens.
Kurt ReichenbachHier zu leben, mache einen demütig, findet der Priester. «In einer Welt voller Hektik lehrt der Berg Ruhe. In der Steilwand zählt die Seilschaft, nicht der Individualismus.» Salzgeber glaubt, dass das auch die Besucher des Simplon-Hospizes spüren. «Viele von ihnen suchen das Gespräch, machen bei unseren Gebeten mit und fragen, ob sie hier beichten können.» Oder anders gesagt: «Auf dem Berg öffnen sich die Herzen der Menschen.»