Eine steile Treppe führt 59 Stufen hinunter in die heilige Höhle. «Das ist die Gebärmutter des Klosters» sagt Mariano Tschuor, 60, und betritt die Gnadenkapelle in Mariastein. Über dem Sakramentsaltar steht eine lächelnde Madonna mit dem Jesuskind im Arm. Laut einer Legende soll sich hier im 14. Jahrhundert ein Wunder ereignet haben: Ein Bub stürzte vom Felsen in die Tiefe. Er überlebte dank der Hilfe von Gottesmutter Maria. Daraufhin wurde die Gnadenkapelle errichtet.
1648 bauten die Benediktinermönche über der Gedenkstätte ein Kloster. Heute ist die Abtei im Kanton Solothurn nach Einsiedeln der grösste Marienwallfahrtsort der Schweiz, mit jährlich mehr als 200'000 Besuchern.
Auch Mariano Tschuor hat nach Mariastein gefunden. Der ehemalige TV-Mann hat am Klosterplatz eine neue Wohnung, ein neues Büro und eine neue Aufgabe: Er soll sich darum kümmern, dass die Klostergemeinschaft fortbesteht und der Wallfahrtsort attraktiver wird. «Die Leute brauchen spirituelle Kraftorte», sagt der Bündner aus Laax. «Heute mehr denn je.»
Seit 1983 war Mariano Tschuor Teil der SRG. Er begann als Radioreporter, wurde Graubünden-Korrespondent und moderierte Sendungen wie «Landuf, landab» und den Eurovision Song Contest.
«Als ich nach meiner ersten Eurovision in Malmö in die Schweiz zurückflog, sah ich am Flughafen auf dem Titelblatt des ‹Blicks› die Schlagzeile ‹0 Punkte für den Moderator›. Das war schon hart», sagt Tschuor und lacht – heute kann er das. Später wurde er Direktor vom rätoromanischen Radio und Fernsehen RTR, dann Mitglied der Geschäftsleitung der SRG.
Mariastein lernte er 1994 kennen, als er auf dem Klosterplatz die Sendung «Besuch in …» drehte. Seither kehrte er immer wieder zurück. «Ich fand hier Ruhe, konnte mich konzentrieren», sagt er. «Für mich war schon lange klar, dass ich mit 60 Jahren bei der SRG aufhöre und mir eine neue Aufgabe suche.» Sein Glaube führte ihn ins Kloster. «Mir gefallen die Rituale der Mönche – ich esse und bete mit ihnen.»
Ein Verbündeter in der Abtei ist Pater Armin Russi, 65. «Er feierte bereits mit mir den fünfzigsten Geburtstag», erzählt Tschuor. Mit Samy, dem Klosterhund, gehen sie oft gemeinsam spazieren. «Ich habe Mariano gesagt, was alles schlecht ist am Leben im Kloster», sagt Russi. «Trotzdem ist er gekommen.» Die Männer lachen und streicheln Samys Bauch.
Tschuors erste Kindheitserinnerung hängt mit Ostern zusammen. «Es war Karsamstag. Meine Mutter und ich haben zu Hause alles geputzt und gebacken – eine laventada, das ist ein Briochegebäck mit Weinbeeren. Diesen Geruch werde ich nie vergessen.»
Später am Abend gingen er und die Mutter zusammen zur Messe im Dorf. «Die Kirche war vom Kerzenlicht unglaublich hell erleuchtet.» Er war fasziniert. «Je grösser die Feste, desto mehr mochte ich sie, schon als Kind.» Er besuchte die Klosterschule in Disentis. Der katholische Jahresablauf formt sein ganzes Leben. «Aber deswegen habe ich weder eine Psychose noch eine Neurose.»
Das Bild der Katholiken prägen heute Risse: sexuelle Übergriffe, Intrigen und Machtmissbrauch. «Es sind düstere Zeiten für die Kirche. Viele Amtsträger haben ein Chaos hinterlassen», sagt Tschuor. «Ich schäme mich fremd! Wenn man wenigstens jemandem eine Ohrfeige geben könnte, der so dummes Zeugs macht.»
Die Kirche müsse lernen, für ihre Taten Verantwortung zu übernehmen. «Wir müssen Fälle von Missbrauch aus Sicht der Opfer anschauen und nicht aus jener der Täter. Die Amtskirche darf nicht immer alles auf eine abgehobene, erhabene Sprache abwenden.» Unter solchen Skandalen leide aber sein Glaube nicht. «Mein Gottesbild kann auch eine Institution, die mit Problemen kämpft, nicht erschüttern.»
Nun sei die Zeit für Reformen gekommen. «Die Kirche muss sich ernsthaft mit der Sexualität der eigenen Leute auseinandersetzen.» Das Zölibat sei eine Erfindung des Mittelalters und eigentlich auch nur ein Machtkonstrukt. Er verstehe alle, die enthaltsam leben wollen, aber Tschuor findet: «Es müsste für Menschen der Kirche, die nicht zölibatär leben wollen, auch eine Lebensform geben.»
Für homophobe Aussagen gewisser Amtsträger hat Mariano Tschuor kein Verständnis: «Liebe ist doch Liebe. Egal ob zwischen Mann und Frau oder zwischen zwei Männern oder zwei Frauen.»
Obwohl Mariano Tschuor die meiste Zeit in der Nordwestschweiz lebt, bleibt er der Südostschweiz verbunden. Seine freien Wochenenden verbringt er mit der Familie in seinem Heimatort in der Surselva. «Wir bauen ein Drei-Generationen-Haus. Mein jüngster Sohn Andriu, seine Frau und ihre zwei Kinder werden einziehen.»
Nun sei er endlich angekommen, sagt Mariano Tschuor. «Früher war ich oft fordernd und streng, heute bin ich gelassener.» In der Gnadenkapelle, der «Gebärmutter des Klosters», wo die Geschichte Mariasteins begann, zündet er eine Kerze an. Nun beginnt hier auch für Mariano Tschuor eine neue Geschichte.