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Die härteste Sozialvorsteherin ganz privat

SVP-Nationalrätin Martina Bircher tanzt gerne aus der Reihe

Sie gilt als härteste Sozialvorsteherin der Schweiz – nun will SVP-Nationalrätin Martina Bircher in die ­Aargauer Regierung. Wann sie privat die Kontrolle abgibt und wo für sie die Parteilinie keine Rolle spielt.

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Martina Bircher. SVP Nationalrätin, AG lebt mit ihrem Lebenspartner Fabian Meyer in Aarburg. Salsa Tanzen ist ein Hobby von beiden. Tanzlehrer Guillermo d‘Nelson May Bild © Remo Naegeli

In der alten Turnhalle von Aarburg AG nehmen Martina Bircher und ihr Partner Fabian Meyer Salsastunden bei Guillermo D’Nelson May. Sie hat dem Kubaner den Kursort vermittelt.

Remo Nägeli

Der kubanische Tanzlehrer Guillermo D’Nelson May steht in der alten Turnhalle von Aarburg AG und klatscht begeistert: «Si, Martina, genau so!» Die Salsaschritte bei Martina Bircher sitzen, ihr Partner Fabian Meyer dreht sie im Kreis, sie lässt sich führen und strahlt dabei übers ganze Gesicht. «Beim Tanzen gebe ich die Kontrolle gern ab», sagt sie und lacht. Ganz anders tritt SVP-Nationalrätin Bircher in der Politik auf. Dort gibt die 40-Jährige den Takt vor. Im 9000-Seelen-Städtchen Aarburg hat es die Betriebsökonomin mit einer akribischen Kostenanalyse und harten Massnahmen geschafft, die Sozialhilfequote von 6,1 Prozent auf 2 Prozent zu dritteln. Wer Geld erhält, bekommt regelmässig unangekündigt Hausbesuch vom Sozialamt. Schickt eine Migrantin ihr Kind nicht in den Deutschkurs, streicht die Stadt einen Teil der Unterstützung.

Der Turnaround bringt Bircher schweizweit Aufmerksamkeit, aber auch Kritik ein. Sie habe statt eines Herzens Stacheldraht in der Brust, schreibt eine Leserin der «Aargauer Zeitung». Das Bild der «Hardlinerin» prägt Birchers Image. «Dabei schöpfe ich nur den rechtlichen Rahmen aus mit dem Ziel, die Menschen aus der Sozialhilfe rauszuholen», entgegnet Bircher. Viele Leute könnten sich gar nicht vorstellen, dass manche Sozialhilfebezüger das System bewusst ausnutzen. «Die kommen mit Wünschen daher – da sträubt es einem die Haare.»

Martina Bircher. SVP Nationalrätin, AG lebt mit ihrem Lebenspartner Fabian Meyer in Aarburg. Bild © Remo Naegeli

«Ich bin ein Zahlenmensch», sagt Martina Bircher zu Hause in Aarburg. «Von 200 Menschen aus Eritrea sind heute nur noch 30 in der Sozalhilfe.»

Remo Nägeli

Ochsentour im Schnellschritt

«Mami, kann ich noch etwas gamen?», fragt James-Henry (6) und fläzt sich aufs Ledersofa. «Eigentlich haben wir gesagt, für heute ist fertig», antwortet Bircher und streicht ihrem Sohn über den Kopf. «Ich bin sicher nicht das strengste Mami, Fäbu hat da die klarere Linie», sagt Bircher. Ihr Partner Fabian Meyer (42) nickt. «Dafür bist du sehr liebevoll.» Es ist kurz nach 14 Uhr, der gebürtige Berner ist gerade von der Arbeit nach Hause gekommen. Im Sommer hat sich der gelernte Koch entschieden, seinen Job in der Bank zu kündigen und in Aarburg einen Mittagstisch zu gründen. «Ich bin jetzt stolzer Teilzeithausmann.» So könne er Martina auch besser bei ihrer politischen Karriere unterstützen.

Bircher, die nach ihrem Einstieg in den Aarburger Gemeinderat mit 30 Jahren die politische Ochsentour – Gemeinderat, Grossrat, Nationalrat – im Schnellschritt vollzogen hat, kandidiert für den Aargauer Regierungsrat. Als junge Mutter mit kleinem Kind im Kanton ein Novum. «Immer wieder fragt man mich, was ich bei einer Wahl mit meinem Sohn machen würde – einem Mann stellt man diese Frage nie!»

Martina Bircher. SVP Nationalrätin, AG lebt mit ihrem Lebenspartner Fabian Meyer in Aarburg. Bild © Remo Naegeli

«Früher haben wir Kinderbetreuung und Hausarbeit 50 zu 50 aufgeteilt, heute macht Fäbu mehr», sagt Bircher. Hier mit Sohn James-Henry.

Remo Nägeli

Liberal in Gesellschaftsfragen

So stramm Bircher bei Asylfragen auf SVP-Linie politisiert (Nein zum Familiennachzug für vorläufig aufgenommene Asylbewerber, Ja zur Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention), so konträr zur Partei ist ihre Einstellung bei Gesellschaftsthemen. Ihr Sohn besuchte die Kita, sie stimmte für die Ehe für alle und befürwortet die Individualbesteuerung. «Das hat sicher auch mit meiner Biografie zu tun.» Bircher wächst als Einzelkind in Niederwil AG auf. Ihr Vater führt in Zürich eine Quartierbeiz, die Mutter – eine ausgebildete Zahnarzthelferin – ist Hausfrau. Am Familientisch wird viel über Politik diskutiert, die «Arena» gehört am Freitag zum Pflichtprogramm. «Mit 19 Jahre trat ich der SVP bei. Mit dem Fokus auf Eigenverantwortung und der klaren Positionierung gegen die EU kam für mich keine andere Partei infrage.»

Als Bircher 23 Jahre alt ist, trennen sich ihre Eltern. «Da habe ich realisiert, was dies finanziell für meine Mutter bedeutete. Ich schwor mir, später stets unabhängig zu sein.» Ein anderes prägendes Erlebnis ereignet sich Ende Primarschule. Da sagte der Lehrer in ihrer Anwesenheit zu den Eltern: «Martina kommt in die Realschule, sie wird ja eh mal nur Hausfrau und Mami.» Für die damals Elf-jährige ein Schock. «Dann sagte ich mir: Jetzt erst recht!» Bircher lernt fleissig, wechselt von der Realschule in die Sek, später in die Bezirksschule. Nach dem Studium folgen Stationen als Regionalleiterin bei Lidl und als Projektleiterin bei der Post, bis sie sich 2019 selbstständig macht. Heute berät Bircher Gemeinden beim Senken der Sozialhilfekosten. «Ich werde immer wieder unterschätzt – vielleicht weil ich mit 1,60 Metern so klein bin», sagt Bircher augenzwinkernd. Als sie ein halbes Jahr nach dem Zuzug nach Aarburg als Gemeinderätin kandidiert, wird sie belächelt. «Als ich die Wahl schaffte, liefen Wetten, wie lange ich es durchhalte.»

Das ist zehn Jahre her. Heute ist Bircher Vize-Stadtpräsidentin und hat gute Chancen, als Regierungsrätin im Aargau das Bildungsdepartement einzunehmen. «Ich bewundere Martina für ihren Ehrgeiz», sagt Fabian Meyer, der ebenfalls Mitglied der SVP ist. Seit 13 Jahren sind die beiden ein Paar, gefunkt hat es in den Ferien am Ballermann auf Mallorca. «Ich holte ihr eine Kopfwehtablette», erzählt er schmunzelnd. 2016 kaufen sich die beiden in Aarburg ein Reiheneinfamilienhaus mit Garten und Pool, zwei Jahre später kommt James-Henry zur Welt.

Martina Bircher. SVP Nationalrätin, AG lebt mit ihrem Lebenspartner Fabian Meyer in Aarburg. Bild © Remo Naegeli

Die 15-jährige Chihuahua-Hündin Garabina hat Bircher in die Beziehung gebracht. «Sie hört und sieht leider nicht mehr so gut.»

Remo Nägeli

Gerüchte belasten die Familie

Birchers Erfolg passt nicht allen. Im Frühjahr wurden Gerüchte gestreut, das Paar würde selber Sozialhilfe beziehen und der Sohn hätte Probleme in der Schule. Bircher wird im Nationalrat darauf angesprochen, Meyer hört Sprüche am YB-Match. «Natürlich ist nichts davon wahr. James-Henry ist noch im Kindergarten!» Mit Neidern habe sie kein Problem, aber die Angriffe auf ihre Familie haben sie getroffen.

Um den Kopf zu lüften, setzt sich Bircher an die Nähmaschine oder geht mit ihrem Partner tanzen. Doch geht es bei Bircher politisch in diesem Tempo weiter, hat das Paar für abendliche Salsastunden bald kaum mehr Zeit.

Jessica Pfister
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Text: Jessica Pfister am 12. Oktober 2024 - 12:00 Uhr