Sein Name ist den meisten unbekannt, aber er hat schon sein eigenes Museum. In Deisswil BE, im Bernapark. Auch das Atelier in seiner Eigentumswohnung entspricht nicht dem, was man sich gemeinhin vorstellt: Hier sieht es aus wie in einer sauber aufgeräumten Arztpraxis. Nichts liegt herum. Und wozu dient der sehr lange Tisch mit den 16 schwarzen Stühlen? Etwa für klandestine Zusammenkünfte einer Sekte? Nein, Kunstmaler Thomas Demarmels (77) empfängt hier Bekannte zum Essen, oder ehemalige Schülerinnen und Schüler, die ihm seine Arbeiten zeigen.
Für jeden Strich den richtigen Pinsel. Thomas Demarmels in seinem Malzimmer.
Remo Buess37 Jahre lang war er ein beliebter Mal- und Zeichenlehrer an der Schule für Gestaltung Bern und Biel. «Als ich 2013 aufhörte, haben alle gesagt, wir wollen weitermachen, ich sagte, okay, aber ihr müsst für ein Lokal sorgen. Jetzt unterrichte ich jeden Abend eine Gruppe, immer anderswo, insgesamt 120 Leute pro Woche. Der Älteste, ein 93-jähriger ehemaliger Professor des Inselspitals Bern, kommt immer noch.» Die Kurse sind gratis. Am Ende des Jahres übergeben ihm die Kursleute jeweils ein Geschenk.
Schöner als die Realität: Was aussieht wie ein Foto, ist ein Gemälde. Die durchscheinenden Wassertropfen sind hohe Malkunst.
ZVGDemarmels braucht kein Einkommen mehr: «Ich habe nicht gerade wenig Geld», sagt er und schmunzelt, «und geniere mich nicht, das zu sagen.» Seine Anlagen an der Börse haben sich bezahlt gemacht. Die finanzielle Unabhängigkeit ist auch ein Grund, weshalb er sich nie um Ausstellungen in Galerien beworben hat. «Mich kennt niemand. Weil ich nie ausgestellt habe.» Und warum lebt er ganz allein in der grossen Wohnung? «Ich bin nicht der Familientyp. Hatte aber immer tipptoppe Freundinnen. Die Kollegen meinten oft, was willst du noch mehr, nimm doch die zur Frau.» Hat er nicht. Aber ein Eremit will er auch nicht sein, «ich bin froh, dass ich in meinem Alter noch Kurse gebe, da komme ich unter die Leute».
Schon als Lehrer pflegte er diskret sein Hobby, das Malen von superrealistischen Bildern, auch Fotorealismus genannt. Die Motive sind ganz verschieden, einmal ist es der Kopf eines Tigers, dann eine Zitrone, eine Coca-Cola-Flasche oder ein Amerika-Bild mit einer halben Seite der «New York Times», auf der man jeden Buchstaben genau lesen kann. Sieht aus wie gedruckt. Fast unmöglich, sich vorzustellen, was für eine präzise, minutiöse Pinselführung ein solches Bild erfordert. Unglaublich auch das Bild von Tautropfen auf einem Baumblatt. Wie fotografiert, aber tiefer im Ausdruck.
Demarmels mit dem Bild einer Cola-Flasche und Zitronen auf der Staffelei. Er verbringt Wochen an einem solchen Werk.
Remo BuessLieber Dinge als Menschen
Jedes Bild braucht wochenlange Arbeit an einem Tisch, nahe beim Fenster im Malzimmer, einer Art Büro mit zwei Schaukästen, in denen Gegenstände darauf warten, gemalt zu werden. Hier fängt Thomas Demarmels um sieben Uhr mit der Arbeit an. Dann geht er fürs Mittagessen einkaufen, kocht sich «etwas Einfaches», am Nachmittag wird zuerst weitergemalt, danach fährt er zum Unterricht.
Im spartanisch eingerichteten Lesezimmer, gleich neben dem Malzimmer, wo nur zwei Sessel und ein tiefer Tisch stehen, liegen mehrere Bücher zu wissenschaftlichen Themen auf, zum Beispiel zur Neurokognition oder Astrophysik. An der Wand steht ein grosses Bild einer Frau im Bikini, alles porentief realistisch gemalt, als wärs eine Fotografie «Sie war eine Freundin, mit der ich in Hawaii war, ich habe als Hintergrund einen Saal der Frick-Collection in New York gewählt.» Wie hiess die Freundin? «Ich weiss es nicht mehr.»
Clean und aufgeräumt. Thomas Demarmels in der Küche seiner Eigentumswohnung in Bern.
Remo BuessDas Frauenbildnis ist eine Ausnahme. Menschen malen liegt Demarmels nicht, im Gegensatz zum anderen, viel bekannteren Berner Fotorealisten Franz Gertsch, der vor allem junge Menschen grossformatig gemalt hat, meist nach fotografischen Vorlagen, die er an die Leinwand projizierte. Demarmels malt nur nach Objekten, die er vor sich hat. Die beiden hatten an der damaligen Kunstgewerbeschule denselben Lehrer: Hans Schwarzenbach. Beide wurden zu Meistern des Hyperrealismus. 1977 machte Schwarzenbach seinen Schüler Thomas Demarmels zu seinem Nachfolger an der Kunstgewerbeschule. Gertsch blieb unabhängiger Künstler und hat im Gegensatz zu Demarmels viele Ausstellungen bestritten, die ihn bekannt gemacht haben. Demarmels hingegen hängte seine Werke einfach an die vielen weissen Wände seiner Wohnung. 300 Gemälde waren es, bevor alles gezügelt wurde. «Ich habe meine Bilder am liebsten um mich herum.»
«Ein grosses Glück»
Stets seien Gäste zum Betrachten der neusten Produktion gekommen, erzählt er. «Zwei Kollegen, Urs Ritschard, dessen Frau seit 50 Jahren regelmässig in die Malkurse kommt, und Urs Nidegger, der mit seiner Frau jahrelang Kurse besuchte, fanden, so könne es nicht weitergehen. Sie haben sich gefragt, was man mit Tömels Bildern machen könnte.» Urs Ritschard hatte dann die Idee mit dem Bernapark, gegründet von Ex-Credit-Suisse-Banker Hans-Ulrich Müller. Dieser hatte alle Aktien der stillgelegten Kartonfabrik Deisswil gekauft, die entlassenen Mitarbeiter wieder angestellt und in den letzten vier Jahren den Komplex zu einer Art moderner Stadt ausgebaut – mit Wohnungen, Bildungsräumen, Restaurants, Fitness, Arztpraxen, Coiffeur und sogar mit einem eigenen Bahnhof, wo künftig alle sieben Minuten ein Zug nach Bern fährt. Auch der Kanton ist mit seiner Schule für Gestaltung Bern und Biel hier provisorisch eingezogen.
Unglaubliche Exaktheit und Detailgenauigkeit: Das gemalte Bild einer Mandarine.
Remo BuessDer ideale Ort also für ein Demarmels-Museum. «2021 war alles parat: ein Kunstraum im Bernapark-Komplex mit einer Art Museum für meine Bilder. Das ist wahnsinnig, ich denke immer, welcher Künstler hat dieses Glück, ein eigenes Museum zu erhalten. Das gibt es fast nicht. Ich bin Hans-Ueli Müller sehr dankbar.» Auf Wunsch seines Förderers hat er die sieben Leute, die an der Entstehung des Museums beteiligt waren, auf einem grossen Ölbild abgebildet.
Schoggiplakate am Anfang der Karriere
Thomas Demarmels wuchs in Unterseen bei Interlaken als Sohn eines Bundesbeamten und einer Hausfrau auf. Er absolvierte erst eine Grafikerlehre bei Tobler Schokolade, «was mir sehr gefiel, weil ich gern Schokolade esse». Dann kam er nach Zürich in eine kleine Werbeagentur und bekam den schicksalsentscheidenden Auftrag, für eine Kundin Blumen zu malen. «Als ich ihr das Produkt zeigte, sagte sie: ‹Ou, Sie müssten sich zum wissenschaftlichen Zeichner ausbilden lassen. An der Kunstgewerbeschule Zürich. Gehen sie doch mal dort vorbei.› Ich dachte, warum nicht. Der Chef der Schule nahm mich ohne Prüfung auf, nachdem er meine Arbeiten gesehen hatte.» Demarmels gewann zweimal nacheinander das Eidgenössische Stipendium für angewandte Kunst, machte die Ausbildung zum wissenschaftlichen Illustrator und wurde schliesslich Lehrer, unterrichtete bis sechs verschiedene Maltechniken.
Reklame für Schokolade. Demarmels machte seine Grafikerlehre bei Tobler und gestaltete unter anderem Werbematerial für die Marke.
ZVG40 Jahre lang flog Demarmels in den Ferien jeweils nach New York und Washington. «Ich liebe grosse Städte, war auch mehrmals in Tokio. Amerika ist für mich wie eine zweite Heimat. Dort sah ich auch die Bilder von bekannten fotorealistischen Malern wie Chuck Close, die mich sehr beeindruckten.» Jetzt hat er gerade das Bild einer geschälten Mandarine fertiggestellt. «Die Vorlage habe ich vor mir gehabt. Ich habe sie dann gegessen, zuerst aber noch fotografiert. Ich habe ja wochenlang an einem Bild, so lange hält das Original nicht», sagt er lachend.
Er werde oft gefragt, ob er es nicht schade fände, dass alle Bilder aus der Wohnung jetzt im Museum sind. Aber das störe ihn nicht: «Ich weiss ja, wo sie sind, sie werden gut aufbewahrt, und wenn ich gestorben bin, weiss ich ja nicht mehr, dass ich das alles gemalt habe, die Sache ist erledigt. Das ist die beste Lösung.»
New York ist ein Sehnsuchtsort des Malers, er flog unzählige Male hin. «Amerika ist für mich wie eine zweite Heimat.»
ZVGKaum sind die Reporter weg, zeichnet Demarmels wieder an einer Coca-Cola-Flasche weiter. Wie er diese Durchsichtigkeit der Flasche schafft – das bleibt für uns Besucher ein Rätsel.