1. Home
  2. People
  3. Swiss Stars
  4. Nahost-Experte Erich Gysling: «Trump hat seine Macht konstruktiv eingesetzt»
Nahost-Experte Erich Gysling

«Trump hat seine Macht konstruktiv eingesetzt»

Das Eigenlob des US-Präsident sei berechtigt, findet Politik-Kenner Erich Gysling. Und sagt, wie es nach dem Waffenstillstand für Israelis und Palästinenser weitergeht. 

Artikel teilen

<p>Ein Armeehelikopter fliegt eine der 20 freigelassenen Geiseln ins Beilinson-Spital am Rande von Tel Aviv. Sie waren am 7. Oktober 2023 beim grauenhaften Terrorangriff der Hamas mit fast 1200 Toten verschleppt worden.</p>

Ein Armeehelikopter fliegt eine der 20 freigelassenen Geiseln ins Beilinson-Spital am Rande von Tel Aviv. Sie waren am 7. Oktober 2023 beim grauenhaften Terrorangriff der Hamas mit fast 1200 Toten verschleppt worden.

AFP

Auch mit inzwischen 89 Jahren liest und schaut Erich Gysling täglich drei Stunden Nachrichten. Der Zürcher Journalist ist ein profunder Kenner politischer Vorgänge, und er weiss um die Hintergründe vieler Konflikte. Der ehemalige Leiter der «Tagesschau» und Mitbegründer der Sendung «Rundschau» hat sich auf die Konflikte im Nahen Osten spezialisiert, die ihn nun schon fast sein ganzes Berufsleben lang begleiten. Er spricht zehn Sprachen, darunter Arabisch, Russisch und Farsi. Das gibt ihm die Möglichkeit, Verlautbarungen und News in ihrer Originalsprache zu lesen.
 

Donald Trump lässt sich in Israel für die Geiselbefreiung und den erreichten Waffenstillstand feiern – ist sein Eigenlob berechtigt?

In der Form, wie er sich äussert, ist es überzogen – er übertreibt ja gern. Aber man muss ihm zugestehen, dass er seine fast grenzenlose Macht für einmal konstruktiv eingesetzt hat. Er hat den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu massiv unter Druck gesetzt. Im Kern muss man Donald Trump also Anerkennung zollen.

<p>«Jetzt kannst du netter sein, Bibi, du bist nicht mehr im Krieg», so US-Präsident Donald Trump zu Israels Premier Benjamin Netanjahu.</p>

«Jetzt kannst du netter sein, Bibi, du bist nicht mehr im Krieg», so US-Präsident Donald Trump zu Israels Premier Benjamin Netanjahu.

Getty Images

Meinen Sie seine Macht als Präsident der USA oder als guter Dealmaker?

Trump hat mit seinem Schwieger- sohn Jared Kushner und seinem Sondergesandten Steve Witkoff zwei Emissäre losgeschickt. Vor allem Kushner, der Immobilienentwickler ist, hat viele Kontakt mit arabischen Führern, insbesondere in den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Katar. Der Premierminister von Saudi-Arabien, Mohammed bin Salman, ist gar ein Freund von ihm. Die Nachricht, die Kushner überbrachte, war: Wenn jetzt nichts passiert, sind unsere Geschäftsbeziehungen zu Ende. Mitentscheidend war auch der Anschlag Israels auf Katar, den Trump verurteilte und Netanjahu gar zwang, sich bei den Katari zu entschuldigen. Es war also eine Mischung aus Geschäftsinteressen des Trump-Clans und Machtpolitik.

Interessant. Jetzt wird Weltpolitik also von Immobilienentwicklern gemacht.

Ja, das mutet schon komisch an. Bei Kushner muss man aber sagen, dass er schon während der ersten Amtszeit Trumps in seinem Namen im Nahen Osten als Vermittler tätig war.

<p>Über zwei Millionen Palästinenser leben im Gazastreifen. Im Vergeltungskrieg Israels wurden rund 70 000 Menschen getötet, 100 000 verletzt. Die Bevölkerung wurde vertrieben, die Region abgeriegelt, die Hilfe gestoppt. Nach der Waffenruhe wollen die Menschen heim – haben aber kein Zuhause mehr.</p>

Über zwei Millionen Palästinenser leben im Gazastreifen. Im Vergeltungskrieg Israels wurden rund 70 000 Menschen getötet, 100 000 verletzt. Die Bevölkerung wurde vertrieben, die Region abgeriegelt, die Hilfe gestoppt. Nach der Waffenruhe wollen die Menschen heim – haben aber kein Zuhause mehr.

Anadolu via Getty Images

Die USA sind ja die stärksten Unterstützer Israels …

… mit Waffenlieferungen und Munition, die Israel für seine Kriegsführung braucht. Ausserdem haben die USA im Uno-Sicherheitsrat Israel mit dem Vetorecht immer geschützt. Trump hatte also zwei Druckmittel, die er nun eingesetzt hat. Diese Politik hat zuerst zu Verheerungen geführt, und nun sind die USA die Retter in der Not.

Die Europäer machten sich in den letzten Wochen für einen Palästinenserstaat stark. Hatte das einen Einfluss?

Der europäische Druck hat nicht viel bewirkt. Europa ist für Trump Quantité négligable, also vernachlässigbar. Die Anerkennung eines Staates Palästina war eine Tat der Verzweiflung, genützt hat das nichts. Nein, Europa hatte keinen direkten Einfluss!

<p>Nebendarsteller: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit Palästinenser-Chef Mahmud Abbas und dem britischen Premier Keir Starmer.</p>

Nebendarsteller: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit Palästinenser-Chef Mahmud Abbas und dem britischen Premier Keir Starmer.

keystone-sda.ch

Was wird Trumps Friedensplan nun konkret bewirken?

Die Freude über die Freilassung der Geiseln ist bei der israelischen Bevölkerung gross. Aber: Netanjahu hat die Teilnahme am Friedensgipfel im ägyptischen Scharm El-Scheich unter fadenscheiniger Begründung abgesagt. Damit hat er klar zum Ausdruck gebracht: Ich habe damit nichts zu tun, ich bin nicht solidarisch mit euch. Das war eine Ohrfeige an die Teilnehmer des Gipfels.

Was ist dieser Deal also wert?

Es ist ja nur eine erste Phase, nämlich die Freilassung der Geiseln und ein Teilrückzug der israelischen Armee. Alles andere sind nur Empfehlungen und Wünsche.

<p>Kindliche Freude: Im Flüchtlingslager Bureidsch im Gazastreifen sind die ersten Hilfsgüter seit einem halben Jahr angekommen.</p>

Tränen nach jahrelangem Warten: Auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv ist die Erleichterung grenzenlos.

AP

Die Brutalität der Geiselnahmen und des nachfolgenden Kriegs ist unbeschreiblich. Ist das die neue Realität von Krieg?

Die Gewalt und der Zerstörungswille beider Seiten sind auf keine Art und Weise zu rechtfertigen. 1200 ermordete Israeli, über 200 Geiseln und auf der anderen Seite 70'000 getötete Palästinenser, 100'000 Verletzte, darunter zwei Drittel Kinder und die totale Zerstörung der Infrastruktur – das sind traumatische Erfahrungen. Und die werden bleiben. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass es bei einem Gross- teil der Betroffenen die Bereitschaft gibt, einander die Hand zu reichen. Hass, Trauer und Verzweiflung sind so gross.

Wie sieht denn die Zukunft aus?

Eine Zweistaatenlösung mit zwei Völkern, die nebeneinander leben. In Israel hat die grosse Mehrheit aber keinen Willen dazu.

Was passiert eigentlich im Westjordanland, wo auch rund drei Millionen Palästinenser leben?

Darüber wird und wurde noch gar nicht geredet. Die israelische Regierung will das Land besiedeln, und aus der Bevölkerung gibt es dazu keinen Widerstand.

<p>Tränen nach jahrelangem Warten: Auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv ist die Erleichterung grenzenlos.</p>

Kindliche Freude: Im Flüchtlingslager Bureidsch im Gazastreifen sind die ersten Hilfsgüter seit einem halben Jahr angekommen.

Anadolu via Getty Images

Was ist mit der Palästinensischen Autonomiebehörde und deren Präsidenten Mahmud Abbas?

Abbas spielt keine Rolle, er hat kein Renommee. Seit 2006 hat er keine Wahlen mehr durchgeführt, die Behörde ist korrupt und ineffizient. Dass er an den Gipfel in Ägypten eingeladen wurde, war nur für die Galerie.

Zum Aufbau eines Staates braucht es doch eine Figur, die vereinen kann?

Im Moment gibt es da niemanden. Marwan Barghuthi wäre eine denkbare Integrationsfigur. Er wurde während der zweiten Intifada verhaftet und verurteilt. Seitdem sitzt er in Israel im Gefängnis und wurde beim jetzigen Gefangenenaustausch nicht freigelassen.

Können sich die Palästinenser von der Terrororganisation Hamas befreien?

Das ist theoretisch vorstellbar, praktisch glaube ich nicht, dass es funktioniert. Die Hamas ist zu stark in den Alltag der Menschen integriert.

Was braucht der Gazastreifen?

Die Radikalen in Israel wünschen sich wohl noch immer, dass die 2,2 Millionen Palästinenser aus dem Gazastreifen vertrieben werden. Aber die arabischen Länder wollen sie nicht aufnehmen – weil sie das Problem nicht bei sich haben wollen, aber auch, weil sie es nicht akzeptieren, dass die Palästinenser vertrieben werden. Niemand will mit dem Thema etwas zu tun haben.

Gibt es überhaupt eine Lösung?

Der Konflikt ist lösbar mit Vernunft und gutem Willen. Aber im Moment sehe ich das leider überhaupt nicht.

<p>Seit Jahrzehnten ein gefragter Nahost-Kenner: Erich Gysling zu Hause in Affoltern am Albis ZH.</p>

Seit Jahrzehnten ein gefragter Nahost-Kenner: Erich Gysling zu Hause in Affoltern am Albis ZH.

Geri Born
MR
Monique RyserMehr erfahren
Von Monique Ryser vor 15 Stunden