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Digi-Tal 2023

«Unsere Schulen haben die digitale Trans­formation verpasst»

Die Zürcher GLP-Nationalrätin Judith Bellaiche ist ein richtiger Digital-Turbo. Was sie ihren Söhnen geraten hat, was sie sich von den Mädchen in der Schweiz wünscht und welche Pläne sie für unsere Landwirtschaft hat.

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Judith Bellaiche

«Digitale Berufe sind die Zukunft! Das habe ich meinen Söhnen auch so gesagt»: Judith Bellaiche in der Zürcher Europaallee.

Geri Born

Für die Juristin Judith Bellaiche, 51, war früh klar, dass sie sich politisch engagieren möchte. Mitgerissen wurde sie dann von der «grünliberalen Erfolgswelle». Seit 2019 ist Bellaiche im Bundeshaus unterwegs. Zudem ist sie Geschäftsführerin des Wirtschaftsverbands Swico. Jetzt sucht sie gemeinsam mit der Schweizer Illustrierten nach dem «Digi-Tal 2023». 

Judith Bellaiche, erinnern Sie sich an Ihr erstes Smartphone?
Ja, 2007 war das, als ich gerade mein zweites Kind bekommen hatte. Eine Freundin hatte ein Smartphone und zeigte es mir begeistert. Meine erste Reaktion war: Wozu braucht man das?

Und? 
Die Freundin zeigte mir eine App, mit der man den Menstruationszyklus dokumentieren kann (lacht). Das fand ich dann doch praktisch im Vergleich zur Zettelwirtschaft, die ich vorher hatte.

Und heute sind Sie komplett digitalisiert? 
Ohne Handy bin ich hilflos! Und Ferien ohne Handy kann ich gar nicht. 

Können Sie nicht, oder wollen Sie nicht? 
Also meine Mails checke ich in den Ferien dann immerhin nur noch einmal pro Tag. Aber die Nachrichten, das Wetter – ist bei mir alles digitalisiert. In meiner Familie laufen auch der Kalender und die Einkaufsliste über die Handys von uns vieren.

«Als ich ein Kind war, gabs keine Handys: Wir sassen den ganzen Tag vor der Glot­ze»

Judith Bellaiche

Sie werden «Madame ICT» genannt, weil Sie sich für die Informations- und Kommunikationstechnik einsetzen. Wo haperts denn in der Schweiz? 
Unsere Schulen haben die digitale Transformation verpasst. Sie sind beim Stoff und bei den Berufsbildern total hinterher. Die Folge: Was Kinder und Jugendliche heute in der Schule lernen, entspricht nicht den aktuellen Herausforderungen – und schon gar nicht den künftigen. 

Das klingt jetzt ziemlich hart. 
Im Lehrplan 21 ist zwar eine «Angewöhnung» an digitale Mittel vorgesehen, aber das reicht einfach nicht. 

Aber es kann doch in der Schweiz jeder und jede Jugendliche eine Informatiklehre machen, wenn das der Wunsch ist. 
Theoretisch stimmt das. Aber wir haben nicht genügend Lehrstellen – und es geht ja sowieso nicht nur um Informatikerinnen und Informatiker. 

Sondern? 
Um alle Berufe – wir müssen sie mit einer ganz neuen Einstellung angehen. Digitalisierung ist eine Transversaltechnologie.

Wie bitte? 
Jede Branche und jeder Beruf ist betroffen. Ein Garagist ist heutzutage auch ein halber Informatiker. Und künftig wird es ganz neue Berufe geben. Um diese vorherzusehen, muss man auch wissen, in welche Richtung sich Wirtschaft und Gesellschaft bewegen. 

Warum gibts in den ICT-Branchen ein Mädchenproblem? 
Weil sie davon abgeschreckt werden. Man müsste den Mädchen und jungen Frauen diese Berufsbilder anders schmackhaft machen. Klassische Wünsche sind Tierärztin oder Apothekerin. Auch in diesen Berufen muss man die neuen digitalen Technologien beherrschen.

Und was heisst das jetzt? 
Es lohnt sich für Mädchen, sich in dieses Thema richtig reinzugeben – selbst wenn sie nicht Informatikerin werden möchten.

Ich nehme an, Ihre Söhne sind beide Informatiker?
Fast (lacht). Der ältere ist 20 und studiert an der ETH Elektroingenieur. Der jüngere ist 15 und hat gerade seine erste Bewerbung abgeschickt für eine Lehrstelle als Mediamatiker. Toll, oder?

Warum?
Weil das die Zukunft ist! Das habe ich meinen Kindern auch so gesagt. 

Judith Bellaiche

«Man müsste den Mädchen und jungen Frauen die Digitalisierung anders schmackhaft machen», findet Judith Bellaiche. 

Geri Born

Und wo steht die Schweiz auf dem Weg in die digitale Zukunft? 
Ein riesiges – wirklich riesiges – Potenzial gibt es in der Landwirtschaft. Bauern und Bäuerinnen müssten heute schon lernen, was Digitalisierung ihnen bringen kann. 

Passiert das nicht? 
Zu wenig. Wir leben in einer Ausnahmezeit – der Klimawandel hat sich auch dieses Jahr durch Trockenheit, Hitze und Fischsterben bemerkbar gemacht. Mit digitaler Präzisionslandwirtschaft könnte man Wasser und Dünger besser einsetzen und damit einen Beitrag gegen den Klimawandel leisten. Das ist in der Schweiz noch nicht etabliert. 

Wie wollen Sie das ändern?
Unsere Landwirtschaft ist stark von Subventionen abhängig. Ich werde in der Herbstsession einen Vorstoss einreichen. In einem Pilotprojekt soll digitale Präzisionslandwirtschaft mit Subventionen verknüpft werden.

Warum? 
Weil wir vielleicht unsere Subventionslogik anpassen müssen. Der Bund soll das mit ausgewählten Betrieben testen und herausfinden, wie gross der Nutzen der Digitalisierung für die Bauern – aber auch für die ganze Schweiz – ist. Ich bin sicher: Wir könnten viele Pestizide einsparen und den Selbstversorgungsgrad unseres Landes erhöhen.

Sie sind nicht nur Politikerin, sondern hauptberuflich Geschäftsführerin von Swico. Was machen Sie dort? 
Swico ist ein Verband, und unsere Mitglieder sind alle ICT-Anbieter. Also Unternehmen, die Digitalisierung herstellen und verkaufen. Wir wollen in der Schweiz eine nachhaltige, ausgewogene und menschenzentrierte Digitalisierung etablieren.

Konkret?
Wir beschäftigen uns beispielsweise mit dem CO2-Ausstoss unserer Branche und dem Umgang mit Daten.

Judith Bellaiche

Judith Bellaiche: «Was habe ich mich früher geärgert, wenn ich viel Zeit für mühsame Dinge brauchte.»

Geri Born

Wünschen Sie sich manchmal die Zeit vor der Digitalisierung zurück?
Um Himmels willen – nein. 

Warum nicht? 
Heute geht doch alles viel effizienter. Was habe ich mich früher immer geärgert, wenn ich viel Zeit für mühsame Dinge brauchte. Jetzt geht auf dem Handy endlich alles zack, zack. 

Warum sind wir denn alle so oft am Handy, wenn es angeblich so viel Zeit einspart? 
Meine Einstellung ist: Wir haben alle eine begrenzte Lebenszeit, und die Digitalisierung gibt einem die Wahl, was man mit seiner Zeit macht. Klar, wer den ganzen Tag auf Social Media vertrödeln will, kann das machen. Aber früher hatte ich ja gar nicht die Wahl, meine Aufgaben digital zu erledigen. Jetzt spare ich pro Woche Stunden. Ich liebe die Digitalisierung!

Stört es Sie denn nicht, dass Junge so viel Zeit am Handy verbringen? 
Also als ich ein Kind war, gabs keine Handys: Wir sassen den ganzen Tag vor der Glotze. Ich glaube nicht, dass das besser war. Und ich bin sicher, dass die heutigen Jugendlichen trotz Handy gut herauskommen. 

LS
Lynn ScheurerMehr erfahren
Von Lynn Scheurer am 18. September 2022 - 08:09 Uhr