Fünf Meter trennen den Helikopter von der senkrechten Felswand. Der Rotor peitscht durch die Luft, Staub und Schieferstücke fliegen umher. Drinnen schweigt die Crew, jeder Atemzug ist konzentriert. Draussen hängt ein Bergretter am Seil und gleitet wie ein winziger Punkt den Felsen hinunter. 90 Meter tiefer wartet ein verletzter Kletterer, seine Schulter und Hüfte sind lädiert. Jeder Millimeter in der Luft ist entscheidend, bis der Verletzte gesichert ist und die Winde ihn und den Retter langsam nach oben zieht. Minuten später verschwindet die Felswand im Rückspiegel des Cockpits. Unten bleibt der Oeschinensee zurück, als wäre nichts geschehen.
Die Ruhe vor dem Alarm
Einige Stunden früher: Ärztin Céline Haas (38) bringt um 7.30 Uhr neue Sauerstoffflaschen in den Helikopter. Pilot Werner Marty (59) poliert den Heckrotor an der Maschine. Und Basis-Chef Patrick Klaus (46) bringt den Schlepper in Position, um den Heli vom Hangar auf das Vorfeld zu ziehen. Noch wissen die drei nicht, was der Tag bringt. Nur eines ist klar: Wenn die Sirene schrillt, müssen sie innerhalb von fünf Minuten in der Luft sein.
Seit Ende 2021 ist die Rega-Basis in Sion VS in Betrieb. Es ist der jüngste der mittlerweile 14 Standorte in der Schweiz. Die meisten Einsätze fliegt die Crew hier im Berner Oberland, dem westlichen Waadtland und im Wallis. 540-mal hob die «Rega 18» letztes Jahr ab. Rund drei Viertel der Einsätze sind Notfälle direkt am Unfallort – meistens mitten im Gebirge. Der Rest sind oft Verlegungsflüge von Spital zu Spital.
Die drei Crewmitglieder treffen sich im Gemeinschaftsraum des Hangars – mit Küche, grossem Sofa, noch grösserem Fernseher und einem langen Holztisch. Eine Schicht dauert jeweils 24 oder 48 Stunden. Zwischen den Einsätzen leben, essen, wohnen die Männer und Frauen hier. Kurz nach neun Uhr gibts Frühstück: Brot, Käse, Confi. Fast ein bisschen wie in einer WG, wäre da nicht die ständige Alarmbereitschaft.
Zmorge wie in einer WG – mit Brot, Käse, Confi und Wetterprognosen, die über Einsätze entscheiden.
Kurt Reichenbach«Heute bleibt es sonnig, gegen Abend ziehen ein paar Wolken auf», sagt Pilot Werner Marty während er die Butter verstreicht. «Hot and high – heiss und hoch – das mögen wir gar nicht. Am liebsten hätte der Heli Meereshöhe und 15 Grad, weil die Leistung dann besser ist. Gibts hier aber nie.»
Sion ist die erste Gebirgsbasis, die einen Rettungshelikopter des Typs Airbus H145 D3 einsetzt. Die Maschine kostet knapp zehn Millionen Franken. In den nächsten zwei Jahren wird die Rega die Flotte mit 21 Helikoptern dieses Typs modernisieren. Ein Hightechgerät mit modernstem Navigationssystem, neuer Technik für präzisere Anflüge bei Nebel oder in der Nacht und leistungsstarken Scheinwerfern. In der Kabine können auch Patienten an der Herz-Lungen-Maschine oder Frühgeborene im Transportinkubator geflogen werden. «Unser Helikopter ist wie eine kleine Intensivstation in der Luft», sagt Notärztin Céline Haas.
Sie kontrolliert nach dem Zmorge den abgeschlossenen Medikamentenraum. Fentanyl, Ketamin, Adrenalin – alles steht unter strenger Aufsicht. Jeder Milliliter und jede Pille werden protokolliert. Vor sechs Monaten wurde die Waadtländerin zum ersten Mal Mutter, heute ist ihr zweiter Einsatz seit der Geburt. «Es war sehr schön für mich zurückzukehren, die Kollegen wiederzusehen und natürlich im Heli zu fliegen.» Sonst arbeitet sie als Anästhesistin im Kantonsspital Lausanne, zwei- bis viermal pro Monat kommt sie zur Rega. «Im Spital gibt es viele Spezialisten. Hier muss man sehr schnell entscheiden und trägt viel Verantwortung alleine.» Bei der Rega fliegen fast nur Notärzte mit einer Spezialisierung in Anästhesie mit – weil sie im Notfall intubieren können. Das kann über Leben oder Tod entscheiden.
Die Crewmitglieder bleiben 24 oder 48 Stunden auf der Basis. Schlafen können sie in solchen Containern – alle mit der eigenen Bettwäsche.
Kurt ReichenbachFür Pilot Werner Marty ist jeder Flug ein Stück Kindheitstraum. Aufgewachsen in Guttet oberhalb von Leuk, verbrachte er als Bub Stunden damit, den Helikoptern zuzusehen, wie sie Maste für den neuen Skilift auf den Berg transportierten. «Eines Tages rief mich ein Pilot zu sich und flog mit mir eine kleine Runde. Danach rannte ich nach Hause und sagte meinem Vater: Wenn ich gross bin, werde ich Helipilot.»
Er hielt Wort. Als Militärpilot auf dem Super Puma arbeitete er gleichzeitig bei Air Zermatt und wurde später Linienpilot bei der Swissair. 2000 übernahm er erstmals den Steuerknüppel eines Rega-Helikopters. «Bei der Swissair hatten 250 Leute in der Maschine hinter mir schlechte Laune, wenn wir eine halbe Stunde verspätet waren. Heute ist meist ein einziger Mensch hinter mir – und der ist unendlich dankbar.» Der zweifache Vater fliegt jährlich rund 300 Stunden. Dazu trainiert er alle sechs Monate im Simulator.
Hausarbeit und Herzstillstand
Wenn grad kein Einsatz ist, regiert der Alltag. Die Crew hat eine Liste mit Aufgaben für jeden Tag. Dienstag: Helikopter putzen. Mittwoch: Geräte kontrollieren. Samstag: Kühlschrank schrubben. Rettung heisst auch Hausarbeit.
Zum Leben auf der Rega-Basis gehört der Haushalt dazu: Basisleiter Patrick Klaus hängt auch mal die Wäsche auf.
Kurt ReichenbachPatrick Klaus, Basisleiter und Notfallsanitäter, sorgt dafür, dass alle Ämtli erledigt werden. Als junger Mann wusste er nicht so recht, was aus ihm werden sollte. «Ich war in den Ferien in Südfrankreich und sah dann, wie ein Mann von einer Klippe stürzte. Er wurde von einem Helikopter gerettet. Ich fand das cool», sagt er und lacht. Dann fing der Westschweizer eine Ausbildung zum Rettungssanitäter an, seit elf Jahren ist er bei der Rega. Ein Einsatz ist ihm besonders in Erinnerung geblieben. «Wir mussten einen Touristen aus Belgien mit einem Herzinfarkt reanimieren. Einige Wochen später tauchte er mit seiner ganzen Familie auf, um sich zu bedanken.» Er brachte der Crew eine Kiste voller Guetsli mit. «Für ihn war das Wiedersehen ein Heilungsprozess – weil er sich nicht mehr erinnern konnte, wollte er von uns die ganze Geschichte hören», sagt Patrick Klaus. «Solche Momente bleiben im Herzen. Darum mache ich diesen Beruf so gerne.» Sein Handy klingelt. Es ist kurz nach zwölf Uhr. Der Lieferservice ist hier, heute gibts Pizza zum Zmittag. Nach dem Essen sind Übungen geplant – Windenmanöver und Herzmassage. Doch plötzlich: Alarm!
Ab in den Himmel
Alles läuft ab wie in einem perfekt choreografierten Tanz. Marty steigt ins Cockpit, Haas setzt ihren Helm auf und schultert ihren Rucksack, Klaus schliesst die Türen. Minuten später durchschneiden die Rotorblätter die Sommerluft.
Zweimal gestürzt, doch mit Glück im Unglück: Ein Wanderer steigt mithilfe von Notärztin Céline Haas in den Helikopter.
Kurt ReichenbachEin männlicher Wanderer ist mit Gleichgewichtsstörungen in der Region des Wildstrubels in den Berner Alpen auf 2400 Metern gestürzt. Gelbes Shirt, blaue Hose, die Crew sieht ihn um zehn nach zwei von oben. Landen ist schwierig – also schwebt der Heli mit laufenden Rotoren wenige Zentimeter über dem Boden. Der Mann kann mithilfe der Notärztin einsteigen, die Crew setzt ihn im Spital Sion ab. Doch kaum sind sie wieder in der Luft, kommt schon der nächste Alarm: Ein erschöpfter Alpinist am Eiger, unverletzt, aber blockiert. Noch bevor die Crew Kurs aufnehmen kann, funkt die Einsatzleitung: Kletterunfall am Oeschinensee oberhalb von Kandersteg BE – dringender.
Klaus und Marty entscheiden, auf dem Weg den Bergretter Franz Baumgartner aus Frutigen BE mitzunehmen. Der kann die Situation unter dem Fisistock besser einschätzen. Denn jeder Einsatz in den Bergen ist mit Risiken verbunden. Minuten später schweben sie über der steilen Felswand oberhalb des Sees. Zwei Kletterer hängen in der Wand, einer ist verletzt.
Hier zählt jeder Millimeter: Bergretter Franz Baumgartner seilt sich 90 Meter zum verletzten Kletterer ab – nur fünf Meter von der Schieferwand entfernt.
Kurt ReichenbachMarty hält die Maschine während der Rettung wie festgenagelt in der Luft, fünf Meter von der brüchigen Schieferwand entfernt. Er beweist Nerven aus Stahl. «Ruhe ist die wichtigste Waffe im Cockpit. Wenn du einen Stein ins Rotorblatt kriegst – dann hast du ein Problem.» Sobald der Kletterer gemeinsam mit dem Bergretter an der Winde gesichert ist, zieht sich der Heli zurück, landet auf einer sicheren Ebene in der Nähe, Notärztin Haas untersucht den Verletzten, der eine Fraktur und Schnittwunden erlitten hat. Dann hievt die Crew den Mann auf der Liege in die Maschine. Sie fliegen ihn ins Spital Frutigen – und kehren danach zurück, um den unverletzten Kameraden zu bergen, der ohne Seilschaft nicht absteigen konnte.
Rund 40-mal pro Jahr fliegt die Crew mit zusätzlichem Bergretter – vor allem in heiklem Gelände wie hier am Fisistock.
Kurt ReichenbachKurz nach 17 Uhr ist die Crew zurück in Sion. Sie tanken den Heli, füllen die Medikamente wieder auf, putzen und desinfizieren die Kabine. Der Heli muss sofort wieder bereit sein, in den Himmel zu steigen. Dann: Debriefing und durchatmen. «Diese Einsätze prägen uns», sagt Patrick Klaus. «Darum ist es wichtig, als Team kurz zusammenzusitzen.» Céline Haas nickt: «Das braucht viel Konzentration in kurzer Zeit – wir sind jetzt etwas angeschlagen.» Und Werner Marty? «Es war anspruchsvoll, aber ich habe heute wieder gespürt, dass wir ein gut eingespieltes Team sind.»
In der Schweiz ist das Rettungswesen kantonal geregelt. Im Wallis ist die Kantonale Walliser Rettungsorganisation (KWRO) für die Koordination verantwortlich. Im November 2022 entschied die KWRO nach einer öffentlichen Ausschreibung, dass die Luftrettung im Wallis
Sache von Air Zermatt und Air-Glaciers bleibt. Die KWRO bietet die Rega aber bei Bedarf situativ für
Einsätze im Kanton Wallis auf. Die Rega wehrte sich gegen diesen Entscheid, die Walliser Regierung lehnte die Beschwerde ab. Der Fall ist aktuell Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens.