Zehn Minuten: So kurz ist die Pause, die Simonetta Sommaruga (62) während des Umweltministertreffens vergangene Woche in der tschechischen Hauptstadt Prag hat. In einer der grössten Kongresshallen Europas setzt sich die Bundesrätin in den Sessel vors bodentiefe Fenster mit Blick auf die Prager Burg – und geht ans Handy. Der Moment ist sinnbildlich für den derzeitigen Alltag der Energieministerin: Sie nimmt an kurzfristig einberufenen Sitzungen teil, beantwortet dringende Anfragen oder versucht wie hier vor Ort Verbündete zu gewinnen.
Zwei Tage zuvor hat Putin die Leitung Nord Stream 1 abgestellt – offiziell wegen Wartungsarbeiten. Wie die Mehrheit in der Branche zweifelt auch Sommaruga daran, dass der wichtigste Gaszulieferer für das westeuropäische Netz, an dem auch die Schweiz hängt, danach wieder langfristig in Betrieb gehen wird. «Es sind hektische Tage», sagt sie ernst. Umso wichtiger sei der Austausch mit ihren europäischen Kolleginnen und Kollegen. «Wir sind aufeinander angewiesen. Und wir können voneinander lernen.» So könne die Schweiz künftig eine wichtige Rolle übernehmen, wenn es um die Stabilität des europäischen Stromnetzes gehe – etwa mit dem Pumpspeicherkraftwerk Nant de Drance im Wallis. «Dass dieses Werk sehr viel Strom speichern kann, ist auf grosses Interesse gestossen.»
Jeden zweiten Morgen hält die Energieministerin zurzeit eine Lagebeurteilung mit ihrem Team. Im Prager Hotel schaltet sie um 8.30 Uhr ihren Laptop an und stellt die Verbindung nach Bern her. Inhalt: top secret. Danach erfolgt ein Call zur Vorbereitung des Petersberger Klimadialogs in Berlin, der gleich im Anschluss an die Reise nach Prag stattfindet. Wochenende? Keine Zeit. «Mit der Flüchtlingskrise 2015 und der Pandemie 2020 bin ich krisenerprobt», sagt Sommaruga, die nach zehn Jahren im Bundesrat von Amtsmüdigkeit nichts wissen will. «Verantwortung zu tragen, ist Teil dieses Jobs.»
Kurz durchschnaufen kann die Magistratin beim Ausflug der Umweltminister in die grüne Vorstadtlandschaft von Prag. Stolz präsentiert ihr die tschechische Amtskollegin die renaturierte Ricanka. Der früher begradigte Fluss, dessen Wasser in den 80er-Jahren oft gelb vor Dreck war, mäandert heute in gesundem Blau durch die satten Grasflächen. Bei einem Biotop entdeckt Sommaruga eine Libelle, die sich in einem Spinnennetz verfangen hat – und versucht, sie zu befreien. «Sie tut mir leid», sagt sie, «aber klar, zur Biodiversität gehört fressen und gefressen werden.»
Der Umweltschutz – ein grosses Thema in Prag. Vertieft ins Gespräch ist Sommaruga mit dem ukrainischen Umweltminister Ruslan Strilets. «Wir haben uns schon an der Wiederaufbau-Konferenz in Lugano getroffen. Wir helfen der Ukraine, diesen so nachhaltig wie möglich zu gestalten.» So habe die Schweiz ein grosses Know-how beim Thema Bauschutt-Recycling, was beim Wiederaufbau der zerstörten Häuser elementar sei. An der Konferenz in Prag sitzt Sommaruga neben ihrem ukrainischen Kollegen, als dieser einen Luftalarm aufs Handy bekommt. «Später fährt er 17 Stunden mit dem Auto zurück zu seiner Familie in den Krieg. So etwas macht mich betroffen.»
Die Dinge an sich herankommen zu lassen, das ist für die Bundesrätin eins der Geheimnisse, um die Motivation im Job zu behalten. «Auch wenn man am Schluss einen Entscheid treffen muss – die Begegnungen mit den Menschen geben Kraft.»
Mit Kritik umzugehen, das habe sie gelernt. «Ich finde ja selbst, dass wir uns bei der Energieversorgung zu lange auf Importe verlassen haben.» Deshalb habe sie, kaum im Amt, dem Bundesrat eine Agenda Versorgungssicherheit vorgelegt. Doch auch die Umweltministerin weiss, es ist an ihr, den Umbau nach dem gescheiterten CO2-Gesetz energischer durchzupeitschen. «Wir haben keine 20 Jahre mehr, um über den Bau einer Staumauer zu ‹chären›, es muss vorwärtsgehen», sagt sie mit Nachdruck. Klar sei dies ein Eingriff in die Natur, doch wenn man frühzeitig einen Ausgleich plane – wie beim Nant de Drance mit erweiterten Flussbetten –, müssten auch die Umweltverbände einlenken.
Während die Schweiz bereits unter der Hitze ächzt, ist es in Prag angenehm frisch, als Sommaruga mit dem tschechischen Verkehrsminister durch die Altstadt mit ihren prachtvollen Jugendstilbauten Richtung Tramstation geht. Die beiden haben zuvor über die Güterverlagerung auf die Schiene und den Ausbau des Nachtzugnetzes gesprochen. Ab November fährt ein Nachtzug täglich von Zürich nach Prag. Im Tram bittet ein Fahrgast um ein Selfie mit der Bundesrätin. Ob er denn gern mit dem ÖV fahre, will sie wissen. «Im Sommer nicht, zu viele Kontrolleure. Ich habe nie ein Billett dabei.» Sommaruga stutzt kurz, sagt dann lachend: «Ja, gut, aber jemand muss schon bezahlen.»
Während Sommaruga in Prag für Nachtzüge weibelt, sorgt ihr Parteikollege Alain Berset mit seinem Irrflug in Frankreich für Schlagzeilen. «Natürlich beschäftigt es mich, wenn ein Mitglied des Bundesrats in der Kritik ist», sagt sie. Der Bundesrat lebe davon, als starkes Gremium wahrgenommen zu werden. Mehr darauf eingehen möchte sie nicht, dafür auf eine Kritik im «Tages-Anzeiger», sie sei angesichts der Stromkrise zu wenig alarmiert. «Stellen Sie sich vor: Es ist 35 Grad heiss – und wir sagen den Leuten, dreht eure Heizungen runter. Da nimmt uns niemand ernst.» Der Bund habe aber am Mittwoch die Sensibilisierung der Bevölkerung intensiviert.
Am Schluss ihres Prag-Aufenthalts besucht Sommaruga die Fabrik des Autoherstellers Skoda. Viermal hintereinander war dessen Modell Octavia das meistverkaufte Auto in der Schweiz, bis 2021 Tesla die Spitze übernahm. «Ein gutes Zeichen», sagt Sommaruga, deren grüner Mini meist in der Garage steht, schmunzelnd. Bei Skoda ist bereits die Hälfte der 1360 pro Tag fertiggestellten Autos elektrisch. Besonders interessiert zeigt sich die Bundesrätin am Batterie-Recycling: «Ein wichtiger Schritt.»
Und wann lädt sie ihre Batterien auf? «Auf Geschäftsreisen lese ich abends immer ein paar Seiten», sagt Sommaruga am Bahnhof Prag vor ihrer Weiterreise nach Berlin. Zurzeit sei dies die Biografie der Pianistin Hélène Grimaud. Auch das Klavierspielen gibt der ehemaligen Pianistin viel – oder das Kochen: «Letzte Woche habe ich im Garten die ersten Kartoffeln geerntet. Ein schönes Essen mit meinem Mann, es sind diese kleinen Momente, die mir Energie geben.» Eigentlich wäre sie mit dem Zug diese Woche privat für ein paar Tage an die Adria gefahren, verrät sie zum Schluss. Doch die Reise muss warten. «Die Lage ist zu ernst.»