«Grüezi. Ich bin Barbara. Wie geht es euch?», sagt Barbara Schmid-Federer (56). «Gut», antwortet Natalia Yakovenko (57) und schaut beschämt zu Boden. «Nix gut Deutsch.» Diesen Mai ist die Ukrainerin mit ihrer Tochter Anfisa (24) aus Charkiw in die Schweiz geflohen. Seither leben die beiden im ehemaligen Hotel Aurora, einer Gemeinschaftsunterkunft für Ukrainerinnen und Ukrainer in Andermatt UR. Vier Stunden pro Woche nimmt Natalia Yakovenko hier im obersten Stock Deutschstunden bei einer einheimischen Lehrerin. Denn nur so kommt die gelernte Köchin, die in ihrer Heimatstadt ein Restaurant geführt hat, ihrem Ziel näher: Sie will in der Urner Gastrobranche arbeiten. «Deutsch öffnet euch viele Tore», sagt Schmid-Federer. Vor ein paar Jahren hat die ausgebildete Gymnasiallehrerin syrischen Flüchtlingen Deutschunterricht gegeben. Die Ukrainerin: «Krieg schlecht, Arbeit gut.»
850 Geflüchtete, darunter 223 aus der Ukraine, leben zurzeit im Kanton Uri, die meisten von ihnen in Wohnungen. Betreut und untergebracht werden sie von Mitarbeitenden des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK). «Wir machen dies im Auftrag des Kantons», erklärt Barbara Schmid-Federer bei ihrem Besuch verschiedener SRK-Betreuungsangebote im Urnerland. Seit 1. Juli ist die ehemalige Zürcher CVP-Nationalrätin Präsidentin des SRK. 22 Flüchtlinge aus der Ukraine wohnen im früheren Hotel Aurora. Unter ihnen Vira Beskorsa (40) und ihr Sohn Oleksandr (12). Eigentlich wollten die beiden nach Deutschland, wo die Mutter früher gearbeitet hat – doch wegen ihrer Katze Byasha durften sie dort nicht einreisen. «Zum Glück sind wir nun hier», sagt die Mutter, «die Leute schauen so gut uns. Wir alle sind sehr dankbar.» Wie die Stimmung im Haus sei, will die Besucherin wissen. «Gut, meist entspannt. Auch wenn Neuankömmlinge am Anfang noch nervös sind.» Ihr Sohn geht in die sechste Klasse, er hat schon viele einheimische Kollegen, sein Deutsch macht grosse Fortschritte.
Die einfachen Mahlzeiten im Aurora kommen aus der Küche des lokalen Altersheims Ursern, das unentgeltliche Betreuungsangebot umfasst Deutschkurse, psychologische Beratung und Unterstützung für den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt. Die Solidarität mit den Geflüchteten ist gross. Einheimische bringen Kleider und Velos, bieten sich als Gastfamilie oder für Spaziergänge an, stellen Wohnungen zur Verfügung.
Für die Freizeitaktivitäten im Aurora ist Osama Qaddoumi (49) zuständig. Der geflüchtete Palästinenser macht Morgengymnastik mit denen, die wollen. Pflegt mit Bewohnerinnen und Bewohnern das Gärtli hinter dem Haus, gibt Kindern Boxtraining. Organisiert Grillabende, bei denen die Bewohner zu ukrainischer Musik singen und tanzen. Vor ein paar Wochen haben Flüchtlinge mit der Seilbahn einen Ausflug ins Gebiet Eggberge ob Altdorf UR gemacht, erzählt Betreuerin Caezilia Gisler (60). Wiesen, Kühe, Berge – für viele Ukrainer eine unbekannte Welt. «Dort oben waren sie glücklich, es gab Freudentränen.» Auf der Terrasse des Flesch-Kiosks am Fleschseeli kommts zu einer besonderen Begegnung: Ein Gast, der am Nebentisch mit Wirt Bärti ein Käseplättli und ein Glas Weissen von Roland Collombin geniesst, steht auf und gesellt sich zu den Ukrainerinnen und Ukrainern, schwärmt von der schönen Bergwelt. Caezilia Gisler erkennt ihn sofort: Es ist Roger Federers Vater Robert, der mit seiner Frau Lynette auf einer Wanderung ist. Barbara Schmid-Federer schmunzelt. Sie und ihr Bruder – Abt Urban, Vorsteher des Klosters Einsiedeln SZ – sind weit entfernt verwandt mit King Roger.
«Viel Glück», sagt die SRK-Präsidentin beim Abschied zu Natalia Yakovenko. Mit genügend Deutsch «im Rucksack» wird sich die gelernte Köchin für einen Platz im «Fomaz» – Rätoromanisch für Heisshunger – bewerben. Das Schulungsrestaurant in Altdorf ist ein SRK-Integrationsprojekt. Danach winkt eine Anstellung im Restaurant Schützenmatt: Im viel besuchten Traditionshaus (zwölf GaultMillau-Punkte) im Zentrum des Urner Hauptorts holen sich Geflüchtete das weitere Rüstzeug fürs Berufsleben – auch das ein Projekt des SRK. Ob und wann sie ihre Heimat heimkehren wird, weiss Natalia Yakovenko nicht. Barbara Schmid-Federer: «Hoffentlich sehen wir uns bald in der ‹Schützenmatt›!»
Frau Schmid-Federer, Sie sind seit rund 100 Tagen die SRK-Chefin. Was hat Sie am Amt gereizt?
Ich bin mit einem Bewusstsein für sozial Schwache aufgewachsen und hatte früh den Wunsch, mich zu engagieren. Ich wurde für das Amt angefragt, weil man spürte, wie viel Herzblut ich für diese Organisation habe. Mit 51 000 Menschen, die unentgeltlich im Einsatz sind, ist das SRK die grösste Freiwilligenorganisation des Landes. Wir sind auf jeder Ebene tätig, das fasziniert und motiviert mich. Beim Ukrainekrieg zum Beispiel: Wir sind mit anderen Rotkreuzbewegungen in der Ukraine und in den umliegenden Ländern tätig. Wir arbeiten aber auch hier in den Kantonen, in den Gemeinden und national.
Wir besuchen ukrainische Flüchtlinge. Sie konnten vereinfacht mit dem Status S einreisen. Doch es gibt Kritik: Sollten nicht alle Kriegsflüchtlinge von einer erleichterten Aufnahme profitieren?
Wir haben eine ganz klare Haltung: Unsere sieben Rotkreuzgruppen-Grundsätze besagen, dass man keine Unterscheidungen zwischen geflüchteten Menschen machen darf. Es ist unser Anliegen, dass die Ungleichbehandlung bekämpft und aufgehoben wird.
Wo möchten Sie das SRK hinführen?
Auf uns kommt eine grosse Zahl an klimawandelbedingten Migrantinnen und Migranten zu. 3,3 Milliarden Menschen fallen wegen des Klimawandels unter die Armutsgrenze. Wenn wir das bewältigen wollen, braucht es neue Technologien, der Klimawandel muss auf allen Ebenen bekämpft werden.
Der Krieg Putins gegen die Ukraine fordert auch das SRK. Wie stark nimmt Sie das selbst emotional mit?
Was mich am meisten beschäftigt, ist die Situation von Kindern. Diese Kinder haben jetzt schon so einen Schreck bekommen und so viel Kummer erleben müssen. Das tut mir sehr weh. Auf der anderen Seite tut es mir gut, dass ich etwas dagegen tun kann. Ich muss nicht hilflos zuschauen.
Haben Sie sich schon mal überlegt, Flüchtlinge bei sich zu Hause aufzunehmen?
Ich kümmere mich schon seit zehn Jahren privat mit einem Freund, einem Pfarrer am Grossmünster, um Flüchtlinge. Er nimmt geflüchtete Menschen in der Helferei auf, und ich unterrichte sie in Deutsch. Ich will mich vorläufig auf diese Tätigkeit und meine Arbeit im SRK fokussieren. Ich finde es aber sehr wertvoll, wenn jemand Geflüchtete bei sich zu Hause aufnimmt.
Wer inspiriert Sie?
Das mag gestellt klingen, aber ich befasse mich intensiv mit Henry Dunant, dem Gründer des Roten Kreuzes. Er war Kaufmann, wollte Geschäfte machen und war auf dem Weg zu Napoleon. In Solferino sah er das Gemetzel auf dem Schlachtfeld. Er engagierte Menschen aus den umliegenden Dörfern, um den Verletzten zu helfen, egal, zu welcher Seite sie gehörten. Das war die Geburtsstunde des Roten Kreuzes. Aus dem heraus entstand eine Organisation mit 100 Millionen Menschen, die für das Rote Kreuz tätig sind. Und ich darf jetzt jemand sein, der das weiterträgt.
Interview Yara Vettiger