«Lieber Jürg, wir haben uns beim Fussball kennengelernt. Nicht beim FCZ auf der Tribüne, sondern auf der Spielwiese des Schulhauses Hofacker in Schlieren. Ich habe dich meistens nur von hinten gesehen, denn du spieltest im Sturm und ich in der Verteidigung. Als ehemaliger Junior des FC Red Star hattest du ein exzellentes Ball- gefühl – ich traf den Ball nicht immer und schlug dafür mächtige Löcher in die Luft. Als feststand, dass ich im Rotstift mitmachen würde, meintest du nach einem Spiel: ‹Wenn Heinz auf der Bühne so komisch ist wie auf dem Rasen, haben wir einen guten Mann!› Nur einmal lief das Publikum davon Den geladenen Gästen der Hauptprobe zu ‹Jä Nei!›, meinem ersten Rotstift-Programm 1977, gefiel meine Spielweise offensichtlich. Nach der Vorstellung hast du zuerst Werner von Aesch gemustert und dann mich, geseufzt und gesagt: ‹Jetz muen i dänn gäg zwei settigi Grinde aaspile!› Das, lieber Jürg, ist dir wahrhaftig gelungen! Vor allem bei jenen Nummern, in denen du nicht mit dem Zweihänder fochtest, sondern mit dem scharf geschliffenen Degen deiner sprachlich-rhythmischen Kompetenz.
Das Cabaret Rotstift mit Heinz Lüthi, Werner von Aesch († 2008) und Jürg Randegger (v. l.) 1990. Von Aesch war 1954 Gründungsmitglied des Primarlehrer-Ensembles aus Schlieren, Randegger stiess 1965 dazu, Lüthi 1977.
KeystoneIch erinnere in diesem Zusammenhang an jene Cabaret-Nummer, in der du als Lehrer streng nach Programm unterrichtest. Eine Perle, die mittlerweile zum eisernen Bestand schweizerischer Kleinkunst gehört. 2000 Auftritte haben wir hinter uns gebracht und verschmolzen allmählich zu einer Schicksalsgemeinschaft, die dankbar jenen Lohn er-hielt, welcher unabdingbar mit der Theater- arbeit verbunden ist – den Applaus. Nur einmal haben uns die Zuschauer vorzeitig verlassen. Mit glasigen Augen, käsigem Teint und einem Taschentuch vor dem Mund. Das war auf einem Kreuzfahrtschiff auf hoher See im Golf du Lion, wo der Mistral mit Windstärke 10 blies. Der kleine Theatersaal befand sich im Bug des Schiffes, der sich wie ein Lift hob und senkte … Es ist merkwürdig: Nach der letzten Rotstift-Vorstellung im Jahr 2002 im Restaurant Salmen in Schlieren hat sich unsere Freundschaft gar noch vertieft. Bei unseren regelmässigen Treffen tauchten hinter der Fassade des gewieften Unterhalters plötzlich jene nachdenklichen Züge auf, die auch zu deinem Wesen gehörten. Sie kamen zwar immer wieder in Nummern vieler Programme vor, wurden aber weder vom Publikum noch von der Presse so richtig wahrgenommen. Wir waren in ihren Augen eben in erster Linie Spassmacher – oder waren wir vielleicht doch ein bisschen mehr?
Melodien für die Schlieremer Chind
Wenn wir jeweils gemeinsam über unsere Tätigkeit als Kabarettisten nachdachten, kamen wir immer zum selben Ergebnis: Was uns mit ziemlich grosser Sicherheit überleben wird, sind die Lieder der Schlieremer Chind. Dazu hast du mit einer Fülle zauberhafter Melodien massgeblich beigetragen. Und noch etwas: Nachdem sich die Nachricht von deinem Tod verbreitet hat, haben mir auf der Strasse wildfremde Leute die Hand gegeben und kondoliert. ‹He, he›, sagte ich bei der ersten Beileidsbezeugung durch eine Dame mittleren Alters, ‹ich gehöre nicht zur Familie Randegger.› ‹Nein›, sagte sie, ‹aber zur Familie Rotstift, mit der ich übrigens aufgewachsen bin wie so viele andere auch.› Lieber Jürg, ich habe dir bisher noch nie einen Brief geschrieben. Dies ist der erste und letzte zugleich. Heute schreibt man E-Mails. Die kann man löschen – Briefe nicht.»
Dein Heinz
Schlieremer Chind: Lüthi (l.) und Randegger (r.) mit Martin von Aesch, Sohn und musikalischer Erbe von Aeschs.
Nik Hunger