Wendy Holdener fährt so stark wie schon lange nicht mehr. Und doch heisst es am Schluss wieder: «Shiffrin gewinnt vor Holdener.» 28 Hundertstel fehlen der Schwyzerin vergangenes Wochenende im Slalom von Levi (Finnland) auf die US-Seriensiegerin. Und doch überwiegt bei Holdener die Freude. «Das gibt mir einen Boost. Man weiss vor der Saison nie genau, wo man steht.»
Erfrischend, motiviert und sympathisch – das macht Holdeners Persönlichkeit aus. Für alle hat sie ein nettes Wort übrig, und wer mit ihr spricht, hat das Gefühl, genau in diesem Moment die wichtigste Person für sie zu sein. So, sagt Holdener, sei sie erzogen worden: alle Menschen mit Respekt zu behandeln. Mit ihrer natürlichen Ausstrahlung ist die Skifahrerin aus Unteriberg eine perfekte Identifikationsfigur für Sponsoren – zumal ihre Freundlichkeit nicht aufgesetzt wirkt. «Es wäre zu anstrengend, immer diese Maske angezogen zu haben», sagt sie. «Ich bin so, denke nie, etwas Besonderes zu sein, nur weil ich vielleicht ein bisschen besser Ski fahre als andere.»
«Bin überzeugt, dass ich noch mehr kann»
Holdener gilt als fleissig, pflichtbewusst, bodenständig, ist im Grunde eine Schweizerin aus dem Bilderbuch. Sie hat im Sommer gewohnt hart trainiert, weil sie es mag, ihren Körper zu fordern und zu fördern, und das Resultat der Schinderei auch gern auf Social Media zeigt. Sie ist diszipliniert, ein Journalist schrieb mal, Wendy Holdener sei eine «Büezerin». Auch in diesem Jahr hat sie ihre Ernährung optimiert, sie isst noch bewusster und proteinreicher, überlässt noch weniger dem Zufall. Und Holdener hat gelernt, sich auch mal abzugrenzen. «Ich kann nicht alle Wünsche erfüllen», sagt sie. «Aber ich kann mittlerweile ganz gut abschätzen, was wichtig für mich ist.»
«All meine Träume sind erfüllt, die ich als Mädchen hatte»
Wendy Holdener
Vielleicht ist es ein Erfolgsgeheimnis von Holdener, es so aussehen zu lassen, als sei sie immer ohne Filter unterwegs. Sie spricht auch mal offen über Selbstzweifel, kann verletzlich wirken, lässt Tränen vor dem Mikrofon zu. Das macht sie nahbar. Die Leute zu Hause vor dem TV hätten ebenfalls Tiefpunkte im Leben, hat sie einst gesagt. «Sie sollen wissen, dass wir das auch kennen.»
Ende 2022 ist Holdener womöglich athletisch und mental so stark wie noch nie. Was nicht bedeuten muss, dass sie automatisch so erfolgreich wie nie sein wird diesen Winter. Auch in Levi grüsst sie wieder von Platz 2, hauchdünn bezwungen von Mikaela Shiffrin. Aber es gibt ihr ein Grundvertrauen, das sie schätzt. «Ich habe sehr schöne Zeiten erlebt», sagt sie. «Und doch bin ich überzeugt, dass ich noch mehr erreichen kann.» Ihr Bruder Kevin, 32, findet, es gelinge Wendy noch besser als früher, die Schwerpunkte korrekt zu setzen. «Es hat sie schon immer ausgezeichnet, auf den Punkt bereit zu sein. Heute aber erkennt sie Situationen, in denen sie es auch mal ruhiger angehen kann.»
Immer an der Lockerheit arbeiten
Kevin Holdener ist nicht nur Bruder, sondern auch Manager und Vertrauter Wendy Holdeners. Er sagt, das Talent seiner Schwester habe sich entwickelt, sie habe erst mit 16, 17 Jahren einen riesigen Sprung gemacht. Dank ihrem starken Willen und ihrem unbändigen Ehrgeiz überholte Holdener in jener Phase Konkurrentinnen, die als talentierter galten. Manchmal fehlt ihr immer noch eine Prise Lockerheit, doch sie sagt, dass sie daran arbeite und es ihr viel leichter falle als früher, nicht zu ehrgeizig und verkrampft zu sein. «Es ist ein ständiger Kampf, den ich deutlich mehr gewinne als früher.»
Die Energie kanalisieren, einen trainingsfreien Tag einschalten, Ausgleich in anderen Aktivitäten finden: Diese Dinge sind es, die auf höchstem Niveau den Unterschied ausmachen können. Zum Beispiel zwischen Rang 1 und Rang 2. Das mag im Zusammenhang mit Holdener passend sein. Oder ungerecht. Denn zuweilen wird sie ziemlich streng darauf reduziert, einem Slalomsieg nachzurennen. Sie sagt: «All meine Träume sind längst erfüllt, die ich als Mädchen hatte.»
Wenn man möchte, könnte man die Karriere von Holdener als unvollendet bezeichnen. 30-mal fuhr sie im Slalom aufs Podest, zum Sieg reichte es nie. Sie hat zwar etliche Medaillen an Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften gewonnen, auch goldene. Aber: Erste Ränge gab es nur mit der Mannschaft oder in der Kombination – also nicht in den bedeutenden Einzeldisziplinen.
Viele zweite und dritte Plätze gewonnen – nicht erste verloren
Wenn man jedoch möchte, und Wendy und Kevin Holdener gehören zu jenen Menschen, die das unbedingt tun, könnte man ihre Karriere als vollendet bezeichnen. «Wenn ich heute aufhören würde, wäre ich mehr als zufrieden», sagt Holdener. «Es ist eine fantastische Bilanz.» Sie habe nur in den allerwenigsten Slaloms, in denen sie den Sieg knapp verpasste, das Gefühl gehabt, Rang 1 vergeben zu haben. Oft entscheiden Hundertstelsekunden, auch sie habe schon mehrmals davon profitiert, wenn sie den Sprung aufs Podest knapp geschafft habe. Holdener formuliert den schönen Satz, sie habe viele zweite und dritte Plätze gewonnen – nicht erste Plätze verloren.
«Ich kann mittlerweile ganz gut abschätzen, was gut für mich ist»
Wendy Holdener
Es ist Kritik auf allerhöchstem Niveau, mit der Holdener konfrontiert wird. Das erzeugt Druck, das kann belastend sein, wobei sie oft genug bewiesen hat, in wichtigen Rennen parat zu sein. Nicht als leichtfüssige Künstlerin, sondern als harte Arbeiterin. Sie gehört zu einem Frauen-team um Lara Gut-Behrami, Corinne Suter und Michelle Gisin, das sich gegenseitig zu Höchstleistungen treibt. Gerade mit Gisin verbindet sie eine lange Geschichte, die beiden standen schon bei Nachwuchsrennen gemeinsam auf dem Podest. Und als Gisin Ende Dezember 2020 in Semmering ihren bisher einzigen Slalomsieg feierte, jubelte Holdener, als hätte sie selbst triumphiert. «Ich konnte mich so fest für Michelle freuen», sagt sie.
Immer wieder dankbar für alles
Holdener wirkt mit sich im Reinen. Das hängt auch damit zusammen, dass sie sehr komplizierte Phasen durchlebt hat. Ihr Bruder Kevin musste seine eigene Karriere als Skifahrer einst beenden, weil er an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte. Nach schwierigen Zeiten geht es ihm seit einigen Jahren gut. «Das war logischerweise auch für meine Schwester sehr prägend», sagt er. «Und es relativiert viele Sachen im Leben.» Wendy Holdener engagiert sich beispielsweise in der Krebsliga Zürich, ohnehin wird sie von Menschen, die sie gut kennen, als äusserst sozial beschrieben.
Deshalb erstaunt es nicht, sagt sie im Gespräch mehrmals, wie dankbar sie sei. Für ihr Leben. Ihre Karriere. Ihre Gesundheit. Und hungrig ist sie immer noch. Sie würde es nie so sagen, aber selbstverständlich träumt sie intensiv davon, endlich einen Slalom im Weltcup zu gewinnen. Weil sie es kann. Im Frühling hat sie bei den Schweizer Meisterschaften mit ihrem sechsten Slalomsieg einen nationalen Rekord aufgestellt. Noch nie gewann eine Frau mehr Titel in einer Disziplin. Zuvor hatte sich Holdener die Bestmarke unter anderem mit Vreni Schneider geteilt.
Es sind die ganz grossen Ikonen, an denen sich Holdener messen darf. Dabei ist sie selbst längst eine.
Von Fabian Ruch