Machen Sie am 29. Juli um 14 Uhr ja kein Meeting und auch kein Rendez-vous ab. Sie könnten es bereuen! Auf dem künstlich angelegten Hügel von Élancourt, dem höchsten Punkt von Paris, will einer noch höher hinaus: Nach Bronze 2008 in Peking, Silber 2012 in London und Gold 2016 in Rio möchte es Nino Schurter (38) nochmals zu Gold bringen! Der Bündner Mountainbiker zählt neben dem kompletten olympischen Medaillensatz auch zehn Weltmeistertitel und 36 Weltcupsiege zu seinem Palmarès. Schurter ist ein Perfektionist zwischen Genie und Spass. Und er ist auch mit 38 Jahren noch immer hungrig.
Was ihn antreibt? «Die Freude an dem, was ich mache. Und sicher auch der Erfolg: Wenn ich sehe, dass ich es immer noch kann.» Momentan sei das Setting einfach noch zu gut, um Adieu zu sagen. Er schwärmt von seinen Partnern im Scott Racing Team, die immer noch an ihn glauben. Er liebt es, junge Fahrer zu inspirieren. «Und ich kann im Mountainbike-Sport etwas bewegen», hält er fest. Deshalb gebe es für ihn keinen Grund, sich jetzt als Profi zu verabschieden.
«So etwas müsste ich dann im Moment spüren»
Und wenn er dann doch einmal zu alt für den Velosattel ist? «Bei Scott bin ich heute schon stark in die Entwicklung neuer Bikes eingebunden. Es ist megacool, an Bikes zu tüfteln, die in zwei Jahren auf den Markt kommen.» Auch Swiss Cycling investiere sehr viel in Roll- und Eigenschaftstests. «Es geht darum, dass das Velo einfach noch ringer und noch schneller läuft.»
Schurter liebt die Zusammenarbeit mit Ingenieuren und Mechanikern. Aber noch etwas anderes liegt ihm: Schon jetzt kreiert er mit der Rennserie Bike Revolution tolle Events: «Von Kindern bis zu Grosseltern fanen alle mit – diese Ambiance gefällt mir. Die Organisation solcher Events könnte auch in Zukunft ein Teil von mir sein.»
Ihn stört, wenn Aussenstehende meinen, er habe den richtigen Rücktrittszeitpunkt verpasst, jetzt würde er gescheiter aufhören. «Schlussendlich muss es für mich stimmen.» Sicher, nun nochmals ein Olympiasieg in Paris und dann aufhören – das wäre ein schönes Szenario. «Aber so etwas müsste ich dann im Moment spüren. Dann ist es das Richtige», erklärt Schurter. Momentan habe er Spass und möchte weiterfahren. «Und es auch geniessen. Wenn du weisst, dass du nicht noch fünf Jahre vor dir hast, gehst du mit dem Erfolg anders um.»
Bouldern mit der Tochter
Der Topathlet Nino Schurter ist auch ein Familienmensch. Er schöpft viel Kraft aus seinem Umfeld. Daran ändert auch die Trennung von seiner an MS erkrankten Frau Nina im vergangenen Jahr nichts. Die beiden waren seit ihren Jugendjahren zusammen und haben 2014 geheiratet. «Wir sind immer noch die Eltern der achtjährigen Lisa, pflegen einen engen Kontakt und haben es gut miteinander.» Der Mountainbike-Profi geniesst die Momente mit seiner Tochter. Sie fährt auch schon Rennen. Bald eine Rennfahrerin Schurter? Der Vater wehrt ab: «Sie soll das machen, was ihr Freude bereitet.»
Das Töchterchen sei überaus vielseitig unterwegs: «Sie macht Luftakrobatik, will Geige spielen, besucht den Kunstklub, geht ins Biketraining und fährt gern Velo.» Sie spüre, dass er es cool findet, wenn sie gemeinsam unterwegs seien und kleine Abenteuer erlebten. «Wir bouldern auch, erkunden Klettersteige und wandern.» Nino findet es wichtig, dass seine Tochter allerlei ausprobiert.
Er ordnet Olympia alles unter
Dieses Abschalten und Auftanken ist für Nino Schurter extrem wichtig. Spitzensportler ist er 24 Stunden an sieben Tagen die Woche. «Ich bin nicht einfach am Wochenende nicht mehr der Athlet», sagt er. Deshalb seien solche kleine Auszeiten Gold wert. Die Balance zu finden, bezeichnet er als seine grösste Stärke. «Ich weiss genau, wie viel ich trainieren muss und wie viel Erholung ich brauche.» Das habe er seit Beginn seiner Karriere immer gespürt. Manchmal müsse er beim Training etwas Zeit herausnehmen, sich etwas anderem im Leben widmen, um wieder motiviert, frisch und voll fokussiert zu sein. Das ist neben stundenlangem Training auf dem Velo und im Kraftraum die Erklärung dafür, dass er während so vieler Jahre an der Weltspitze mitfahren kann.
Nino, der Perfektionist, da ist er wieder. Nichts überlässt er dem Zufall. «Gerade wenn es auf einen so grossen Event wie die Olympischen Spiele zugeht, ordne ich das Leben dem Sport unter.» Es gelte, jeden einzelnen Tag optimal zu gestalten. Am Ruhetag sich so viel Erholung wie möglich zu gönnen, um am Trainingstag voll da und präsent zu sein. «Das ist das Ziel des Tages.» Dazu gehört auch die richtige Ernährung: «Ich habe keine spezielle Diät.» Entscheidend sei, zur richtigen Zeit das Richtige zu sich zu nehmen. «Und vor allem auch qualitativ gut zu essen», ergänzt er.
«Ich merke, wie viel ich leiden muss»
Für die Olympiastrecke mit ihren vielen kurzen Anstiegen und künstlich gebauten Passagen hat er sein Krafttraining extra angepasst: «Ich muss in Paris explosiv sein.» Auch weil er nicht mehr der Jüngste sei, müsse er mehr darauf achten, Explosivität und Spritzigkeit beizubehalten. Sein grosses Plus: «Ich kenne meinen Körper. Viele würden überpacen. Ich merke, wie viel ich leiden muss und was ich noch benötige. Diese Stärke versuche ich so gut wie möglich auszuspielen, damit ich am Tag X so gut drauf bin wie möglich.»
Am Schluss spiele sich alles im Kopf ab, sagt Nino Schurter. Die mentale Stärke sei bei einem so dichten Feld an Ausnahmeathleten entscheidend. «Wenn du das Selbstvertrauen hast und an dich glaubst, kannst du den ganzen Druck in Energie umwandeln.» Es sei ein Vorteil, dass heutzutage alles messbar sei. Der Powermeter am Velo zeige genau an, wie viel Watt er in die Pedale treten könne. «So baue ich mein Selbstvertrauen langsam auf die Olympischen Spiele hin auf. Wenn du im Kopf erfolgreich bist, ist das schon das halbe Rennen.»
Im Vergleich zu den Anfängen seiner Karriere ist Nino Schurter sichtlich entspannter geworden. «Der Sieg in Rio de Janeiro hat einiges verändert. Ich gewann und bin Olympiasieger. Deshalb verspüre ich nun nicht mehr den gleichen Druck wie auch schon.» Die Situation sei ähnlich wie zu Beginn seiner Karriere: «Damals, mit Anfang 20, war ich der Jüngste im Feld, und niemand erwartete bereits Top-Klassierungen», so Nino. «Das gleiche Gefühl habe ich jetzt wieder: Nun bin ich der Älteste im Feld, und ich muss nicht mehr unbedingt siegen. Aber wenn es mit 38 in Paris klappt – dann ist das umso cooler.»