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Sie gibt den Ton an

Zu Hause bei Star-Dirigentin Lena-Lisa Wüstendörfer

Sie dirigiert in High Heels, nascht vor jedem Konzert Schokolade und begeistert mit ihrem Musikwissen die Klassikwelt. Privat liest Star-Dirigentin Lena-Lisa Wüstendörfer Krimis. Und geniesst den Advent in ihrer Zürcher Altstadtwohnung.

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Lena Lisa Wuestendoerfer, Dirigentin

Studiert Lena-Lisa Wüstendörfer keine Partituren, entspannt sie sich in ihrer Wohnung in Zürich beim Lesen.

Geri Born

Erhebt die Maestra den Taktstock, blicken 80 Augenpaare erwartungsvoll zu ihr hoch. Lena-Lisa Wüstendörfer, 37, ist neben Graziella Contratto die einzige Schweizerin, die ein Spitzenorchester leitet. Wüstendörfers Konzerte sind ein Ereignis für die Seele. Die Zürcherin wandelt klassische Musik in pure Energie um! 2018 gründete sie das Swiss Orchestra, mit dem sie vergessenen Werken von Schweizer Komponisten neues Leben einhaucht. Auf dem Podium trägt sie High Heels, spektakulär wirbeln die blonden Haare durch die Luft. Dabei geht es ihr nicht um Effekthascherei, sondern um das tiefe Verständnis für Musik. «Orchesterklänge faszinierten mich seit meiner Kindheit. Mit ihnen kann ich Geschichten erzählen und die Menschen emotional berühren.» 

Privat lebt die Powerfrau in einer schmucken Wohnung in der Zürcher Altstadt. Wer im Besitz des absoluten Gehörs ist, nimmt die Umwelt anders wahr. «Ich lausche dem Kreischen der Möwen, dem Rauschen der Limmat und dem Läuten der Kirchglocken. Sie glauben gar nicht, wie oft die Uhren von Grossmünster und St. Peter stehen bleiben.» Im Interview verrät sie, warum sie vor jedem Konzert ein Stück Schokolade nascht. Und wie man als Frau in einer Männerdomäne Karriere macht. 

Lena Lisa Wuestendoerfer, Dirigentin

Wie eine Detektivin: Das Wiederentdecken vergessener Schweizer Komponisten ist Lena-Lisas Spezialität. 

Geri Born

Lena-Lisa Wüstendörfer, wollten Sie schon immer die Chefin mit dem Taktstock sein?
Es geht mir nicht darum zu beweisen, dass Frauen dirigieren können. Mich interessiert die Musik, die ich gemeinsam mit dem Orchester gestalte. Das ist meine Leidenschaft, meine Berufung.

Haben Sie Lampenfieber?
Nervosität, die lähmt, kenne ich nicht. Ich freue mich auf jedes Konzert – das Kribbeln muss sein! Die letzte halbe Stunde gehört mir. Die Partituren wurden dem Orchesterwart übergeben, der sie aufs Dirigentenpult legt. Fokussiert betrete ich die Bühne. Im Hosensack habe ich ein Hustenbonbon – in vollen Sälen ist die Luft oft trocken. Zuvor esse ich immer ein Stück Schokolade, was mir einen Energiekick gibt. Die weisse mag ich am liebsten. 

Lena Lisa Wuestendoerfer, Dirigentin

Die Partituren wie hier von Hans Huber (1852–1921) sucht sie in Archiven in ganz Europa zusammen.

Geri Born

Wie schaffen Sie es, die Aufmerksamkeit von 80 Musikerinnen und Musikern gleichzeitig auf sich zu ziehen?
Ich definiere das Tempo der Partitur, den Charakter des Klangs und habe eine Vision, wie das Stück klingen muss. Spürt das Orchester, dass da vorne jemand steht, der seinen Job gut macht, wird einem diese Aufmerksamkeit automatisch zuteil.

Warum wagen sich so wenig Frauen ans Dirigentenpult?
Vielleicht weil es zu wenig weibliche Vorbilder gibt? Meine Eltern nahmen meinen Berufswunsch gelassen. Auch mein Professor stellte nie infrage, dass Frauen gleich gut dirigieren können wie Männer. Mir wurde erst viel später bewusst, dass ich mich in einer Männerdomäne behauptet habe.

Wann spürten Sie die Kraft der Musik zum ersten Mal? 
Nach meinem Geigenstudium begann ich mich fürs Dirigieren zu interessieren. Zu Beginn leitete ich kleinere Orchester und Ensembles. Ich merkte rasch, wie sehr mir das einen Lebenssinn gibt. Wir sind eine grosse Familie und aufeinander angewiesen. Nur so wird ein Konzert zum Gesamterlebnis. 

Lena Lisa Wuestendoerfer, Dirigentin

Tolle Aussicht! Wüstendörfer blickt vom Balkon über die Stadt bis zur Tonhalle, wo sie hofft, bald wieder auftreten zu können. 

Geri Born

Ihr Mentor Claudio Abbado konnte den Klang des Schnees hören …
Wer die Gabe des absoluten Gehörs besitzt, nimmt die Welt anders wahr. Auch ich bin sensibel auf Stille. Nach einer lauten Symphonie empfinde ich die Anspannung, die im Saal schwebt, als pure Energie. 

Wie erlebten Sie die Zusammenarbeit mit Abbado, der verehrt wurde wie ein Dirigenten-Gott?
Ich ging mit dem Maestro die Partituren durch, gab ihm Rückmeldungen zum Klang und zur Balance der Instrumente. War er verhindert, dirigierte ich seine Proben. Er hatte die Fähigkeit, die Instrumentalisten ohne viele Worte zu leiten. Seine Sensibilität und Zurückhaltung berührten mich sehr. 

Lena Lisa Wuestendoerfer, Dirigentin

Begeistert mit ausdrucksstarker Mimik. Kein Wunder, Wüstendörfers Vater Edzard war Mitglied am Schauspielhaus Zürich. 

Geri Born

Dirigieren ist körperlich anstrengend. Wie fit sind Sie?
Dirigieren ist wie Aerobic auf einem Quadratmeter. Ich bin ein Workaholic. Wer robust ist, hat einen Vorteil. Genug Schlaf ist wichtig. Leider sind die Proben und Konzerte oft eng getaktet, und es bleibt wenig Zeit für Erholung.

Wie vermeiden Sie Routine?
Meine Tätigkeit schenkt mir Befriedigung und Freude. Ich versuche, selbst weltbekannte Stücke wie Beethovens Neunte so umzusetzen, als würde ich sie zum ersten Mal hören.

Warum haben Sie 2018 das Swiss Orchestra gegründet? 
Schweizer Klassik und Romantik sind für Fachleute kein geläufiges Thema. Ich wollte diese Stücke wieder hörbar machen und bin dabei auf Komponisten gestossen, die in ihrer Zeit bekannt waren, danach aber in Vergessenheit geraten sind.

Hat klassische Musik eine Zukunft? 
Ich weiss, wie sehr diese Musik junge Leute begeistern kann! Oft ist es ja die Angst vor dem Unbekannten oder das elitäre Umfeld, das abschreckt. 

Lena Lisa Wüstendörfer Konzert

Star im Mittelpunkt: «Wir können es kaum erwarten, die Emotionen des Publikums wieder live erleben zu dürfen.» 

Dominic Büttner

Wie verbringen Sie Ihre Freizeit?
Ich lese gerne Krimis von Klaus-Peter Wolf und reise an die Schauplätze, zum Beispiel in die deutsche Stadt Norden, die Heimat meines Vaters Edzard Wüstendörfer. Er war Schauspieler, gehörte 30 Jahre zum festen Ensemble des Zürcher Schauspielhauses.

Wie denken Sie über das Alter?
In meiner Welt gibt es kein Verfallsdatum. Es ist wie beim Wein: Man wird mit der Zeit immer besser.

Was macht Sie glücklich?
Wenn ich Konzerte geben kann.

Was stimmt Sie traurig?
Dass wir genau das wegen Corona nicht können. Schon als Kind faszinierte es mich, welche Emotionen man mit Orchesterklängen beim Publikum freisetzen kann. Schweben im Konzertsaal alle im Flow und fühlen sich in denselben Gedanken vereint, ist das etwas absolut Einmaliges. 

Neue CD, neue Hoffnung

Lena-Lisa Wüstendörfer ist Mitbegründerin des Swiss Orchestra. Das junge Ensemble existiert seit 2018. Im Corona-Sommer hat sie eine neue CD eingespielt. Die Stücke stammen von Schweizer Komponisten der Romantik und sind eine Welt-Ersteinspielung. Die geplante Konzerttournee musste auf 2021 verschoben werden. www.swissorchestra.ch

Von Caroline Micaela Hauger am 16. Dezember 2020 - 16:27 Uhr