36 Kilo leicht ist er, doch die Last seines Lebens wiegt schwer. Langsam steigt René Huonder die Treppe hoch, im Keller hat er Gemüsereste entsorgt, sein Rücken macht ein Buggeli, jede Bewegung tut ihm weh. Doch der 79-Jährige ist kein Jammeri. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. «Das Hope House ist ein Stück Heimat.» Pause. «Obwohl ich auch hier von vielen gemieden
werde. Es fehlt an Mitgefühl auf dieser Welt.»
Im Frühling, während des Lockdowns, ist René Huonder zum ersten Mal hierher zur Heilsarmee der Stadt Zürich gekommen. Mit vielen anderen Menschen am Rande der Gesellschaft stand der frühere Architekt Schlange für einen Gratis-Zmittag. Nach ein paar Tagen fragte ihn der Hope-House-Kirchenleiter Markus Muntwiler, ob
er in der Küche mithelfen wolle. Seither marschiert Huonder an drei Morgen in der Woche die fünf Kilometer von seiner Wohnung in Altstetten, in der er allein lebt, zum Haus der Hoffnung.
Ein Trambillett kann er sich nicht leisten, auch Uhr und Handy nicht: «Von der AHV gibts 1200 Franken im Monat, 900 gehen für die Wohnung weg.» Das Gemüserüsten macht ihm Freude, im Gespräch mit den Heilsarmee-Leuten lacht er oft, ganz fein. Mit den anderen Randständigen sucht er den Kontakt vergeblich. «René arbeitet tüchtig und exakt, er kommt nun sauberer angezogen», sagt Kapitän Markus Muntwiler. «Er ist ein bescheidener Mensch, liebenswürdig, gmögig. Wir haben ihn gern, er ist unser Teddybärli.»
Nach dem Rüsten können sich Huonder und andere Armutsbetroffene bedienen: Auf Tischen liegen überschüssige einwandfreie Lebensmittel, geliefert von der Stiftung Schweizer Tafel. Huonder nimmt eine Packung Heidelbeeren und Rüebli, «für morgen daheim». Den Zmittag gibts nebenan im Grossen Saal. Für 100 Randständige Kartoffelauflauf mit dem von René gerüsteten Blumenkohl.
Beim Kafi crème öffnet René Huonder sein Herz. Schon als Bub leidet er unter einer fehlgebildeten Wirbelsäule, heute plagen ihn die Schmerzen tagein, tagaus, im ganzen Körper. «Ich habe gelernt, sie auszuhalten.» Medikamente und Alkohol sind tabu, «ich will nicht abhängig werden». In jungen Jahren arbeitet Huonder in Zürich als Architekt, dann als selbstständiger Industrial Designer. Als er einmal ein Modell für eine Präzisionsmaschine hergestellt hat, holt sich der Genfer Auftraggeber damit weltweit gutes Geld herein – «ich sah nie einen Rappen». Bunt ist sein Leben damals: Huonder gründet einen Filmkreis mit, schmuggelt nach dem Volksaufstand Bücher nach Budapest, mit den Kindern seiner Kollegen spielt er gern «Eile mit Weile». Pfarrer Ernst Sieber hilft er bei dessen Gassenarbeit.
Nach einem unverschuldeten Autounfall liegt Huonder mit offenem Schädel tagelang im Koma. Mit 60 Jahren vertraut er sein Vermögen – «eine Million» – «zu gutgläubig» einem Bekannten an, dieser investiert es – das Geld geht bachab. «Seither bin ich pleite.» In die Brüche geht auch die Ehe: Seine Frau lässt sich scheiden – er hat sie, seine Tochter und deren Kinder seit 14 Jahren nicht mehr gesehen. Die 80 000 Franken Schulden kann er nicht abzahlen. Zufrieden mit seinem Leben ist er nicht, «zu viele Fehler habe ich gemacht, zu viel habe ich einstecken müssen. Doch in Selbstmitleid zu versinken, bringt nichts.»
René Huonder macht sich auf den Heimweg. Manchmal bleibt er stehen. «Ich beobachte gern Menschen und Maschinen.» Den Jungen rät er: «Seid weniger am Handy, dafür offen für Menschen und interessiert! Und dankbar.» Seit 60 Jahren lebt er in seiner Wohnung. Dort pflegte er seine Eltern bis kurz vor deren Tod – deshalb kam es zum Streit mit seiner Schwester «Sie hat nur befohlen.»
Daheim vertieft er sich in technische Bücher und Zeitschriften, sie stapeln sich überall, er tüftelt an einer neuen Schraubentechnik. «Wenn man was will, dann schafft man es.» Pause. «Meist. Und nicht alle.» Ein Christbäumli steht nicht in Renés Stube, an Weihnachten kocht er sich ein Härdöpfelsüppli. Er wird wie immer allein sein, ab und zu beten. «Ich bin froh, wenn die sogenannten Festtage vorbei sind.» Er seufzt. «Manchmal sitze ich nur da und weine.»