Die lauten Scharen der Sommergäste sind schon lange verschwunden, die blau-gelben Schwedenfahnen der Ferienhäuser eingezogen, und auch die letzten Weihnachtsurlauber sind inzwischen wieder die hundert Kilometer zurück aufs Festland gefahren. Die engen Kopfsteinpflaster-Gassen der mittelalterlichen Hansestadt Visby liegen verlassen da. Die Ruhe senkt sich über die weite Insel. Wer jetzt nach Gotland fährt, hat die raue Natur und die Raukar, die bekannten, bizarren Kalksteinformationen entlang der Küste, fast für sich allein.
Während eines Spaziergangs im Naturreservat Södra Hällarna türmen sich dicke Wolken am weiten Winterhimmel. Die Sonne kämpft sich durch die wenigen Wolkenlücken, unter ihr die raue Ostsee, die rauschende Wellen an den steinigen Strand spült. Ein paar Möwen und Dohlen krähen in die Winterstille. Es ist die perfekte Zeit, um sich einfach mal treiben zu lassen, für Erholung pur.
Von der Ruhe darf man sich jedoch nicht täuschen lassen. Für die 48-jährige Schafbäuerin Jenny Granlund beginnt nach Weihnachten eine intensive Zeit, dann werden die Lämmer geboren. «Ich bin ziemlich im Stress. Nachts muss ich raus in den Stall und bei komplizierten Geburten auch schon mal mitanfassen», erzählt sie. Jenny lebt mit ihrem Mann und einem ihrer drei Kinder auf dem kleinen Hof Ansarve südlich von Visby. Aus der Wolle und dem Leder ihrer 150 Gotlandschafe – einer besonderen Hausschafrasse mit silbergrauem, seidig gelocktem Fell – stellt die ausgebildete Kunst- und Designlehrerin in ihrem Atelier Pullover, Ponchos, Schals, Haus- und Handschuhe her. Das Fleisch liefert Jenny an eine lokale Schlachterei und verkauft es zusammen mit ihren Designprodukten in ihrem kleinen Laden in Visby.
"Die Stimmung im Winter ist einzigartig. Dieser Kontrast zwischen drinnen und draussen."
Jenny Granlund
Jenny Granlunds Hof ist mit dem schwedischen Umweltsiegel Krav versehen, das für Nachhaltigkeit, biologischen Anbau und gute Tierhaltung steht. Dass es ihren Schafen gut geht, ist Jenny sehr wichtig, die Tiere sind für sie mehr als nur ein Mittel zum Geldverdienen. «Nach einer anstrengenden Nacht mit vielen Geburten setze ich mich gerne zu den Schafen. Dann werde ich ganz ruhig. Sie sind so anspruchslos, sie verlangen nichts von mir. Sie leben einfach im Hier und Jetzt. Da kann ich mich selbst wieder erden und völlig entspannen.»
Trotz der vielen Arbeit versucht Jenny in dieser Zeit ab und zu ein bisschen Zeit für sich einzubauen. Dann fährt sie in die Stadt oder geht am Meer spazieren. «Die Stimmung im Winter auf Gotland ist einzigartig. Dieser Kontrast zwischen drinnen und draussen! Nach einem Spaziergang durch die karge, feuchtkalte Landschaft wärmt man sich auf in einem gemütlichen Café und trinkt eine heisse Schokolade oder einen Cappuccino. Das ist einfach magisch!»
Die Töpferin Linda Kalström dagegen hat im Winter überhaupt keine Zeit für lange Spaziergänge. Jetzt muss sie zusehen, dass sie alle Bestellungen erledigt und ihr Lager für die kommende Saison auffüllt – Gotland ist eine beliebte Sommerdestination, und ihre Schalen, Schüsseln oder Tassen kaufen die Touristen besonders gern. Das Töpfern hat eine lange Tradition auf der Insel. Schon die Wikinger haben zwischen 800 und 1050 n. Chr. Gebrauchsgegenstände aus Ton hergestellt, das haben Ausgrabungen ergeben. Linda war bereits als junges Mädchen von diesem Material fasziniert. «Zu sehen, wie der Ton in meinen Händen Form annimmt, dass ich ihn nach meiner Idee gestalten kann, das fand ich toll!», erzählt die 44-Jährige in ihrer Werkstatt in Stenkumla bei Visby. «Im Winter sind wir Künstler in unseren Ateliers und arbeiten auf Hochtouren. Aber Besucher sind willkommen, meine Tür steht immer offen.»
Linda Kalström und Jenny Granlund verkaufen ihre Produkte auch bei Kvinnfolki, dem Geschäft einer Frauenkooperative in Visby, in dem nur gotländisches Handwerk angeboten wird. Lammfelle, Keramik, Schmuck oder auch regionale Delikatessen – hier findet man schöne Mitbringsel für zu Hause. Wie viele Läden in der Hauptstadt hat Kvinnfolki auch im Winter geöffnet, schliesslich wollen auch die Gotländer nicht nur zu Hause sitzen! Mehr zeitgenössisches nordisches und gotländisches Design gibt es im Einrichtungsladen Akantus. Bei Kränku gegenüber duftet es schon an der Tür herrlich nach Gewürzen. Hier verkauft Familie Dahlbom seit über vierzig Jahren ihre eigenen Teemischungen, ausserdem Kaffee, Süssigkeiten, Schokolade und Porzellan.
«Unsere Gäste sollen mit einem guten Gewissen in unserem Hotel wohnen können. Nachhaltigkeit liegt uns sehr am Herzen.»
Menette von Schulman, Hotel St. Clemens
Im Restaurant Bakfickan (auf Deutsch Hinterstube) am Stora Torget steht Gustaf Kristiansson am Herd und rührt in einer dampfenden Fischsuppe. Zusammen mit Malin Bergström und Christoffer Fors-gren betreibt er eines der beliebtesten Restaurants in Visby. «Das ‹Bakfickan› ist einfach, aber gemütlich, jeder kann sich hier wohlfühlen, ob im Anzug oder im Blaumann», erklärt er das erfolgreiche Konzept. Das Interieur des Lokals besteht aus weissen Kacheln, alten Holzstühlen, schlichten Plastikdecken, dazu ein Touch Türkis und maritime Deko – fertig! «Die Leute kommen hierher, weil wir seit Jahren die gleichen Klassiker auf der Karte haben, etwa unsere berühmte Fischsuppe aus weissem Fisch mit Tomaten, Fenchel, Chili und Orangensaft. Perfekt an einem kalten Winterabend!», sagt Gustaf Kristiansson. Das «Bakfickan» arbeitet eng mit Bauern vor Ort zusammen, von denen es Gemüse, Obst und Kartoffeln bezieht. Ihre Krabben lassen die Köche in der Fischräucherei in Katthammarsvik im Osten der Insel räuchern. Einziger Wermutstropfen: Der Fisch muss den langen Weg von Göteborg hergebracht werden. Die Ostsee rund um Gotland ist inzwischen leer gefischt.
ANREISE
Mit der Fähre ab Oskarshamn oder Nynäshamn (knapp eine Stunde von Stockholm entfernt) ist man in drei Stunden in Visby. Im Hauptort gibt es auch einen Flughafen.
ÜBERNACHTEN
Von Januar bis Mai sind viele Hotels und Restaurants auf Gotland geschlossen, darum ein Hotel in Visby buchen und von dort aus Tagesausflüge machen. Übernachtungstipps: Hotel St. Clemens, Pension Warfsholm, Jugendherberge Visby Logi.
AUSFLÜGE UND SPAZIERGÄNGE
Strände Tofta, Ljugarn, Sandviken.
Tipp: Ausflug zur Nachbarinsel Fårö mit tollen Raukar (Kalksteinsäulen) und dem langen Strand Sudersand. Sauna Selma City Spa in Visby und die Sauna im Kallbadhuset mit Bad im Meer.
Menette und Carl von Schulman führen das «St. Clemens», das erste Hotel mit Umweltzertifikat auf Gotland. Sie setzen auf Produzenten und Handwerker von
der Insel, besonders jetzt im Winter, wenn einiges im Haus renoviert werden muss. Seit über zehn Jahren gehört den beiden das hübsche Hotel direkt neben der mittelalterlichen Kirchenruine St. Clemens mit lauschigem Garten und 32 Zimmern. Das Bewusstsein für die Umwelt wird in Menettes Familie ganz gross geschrieben. «Unsere Gäste sollen mit gutem Gewissen in unserem Hotel wohnen können. Nachhaltigkeit liegt uns sehr am Herzen.»
Um ihren ökologischen Fussabdruck und den der Gäste zu minimieren, haben Menette und ihr Mann energieeffiziente Massnahmen ergriffen: nur Produkte aus lokalem Anbau, Erdwärme, wassersparende Toiletten und Duschköpfe, Strom aus erneuerbaren Energien, LED-Lampen, Bio-Frühstück, Essigreiniger und Elektroauto. Menette sieht sich in einer Tradition, wenn sie sagt: «Wir leben heute in Visby von dem, was frühere Bewohner aufgebaut haben. Wenn wir unser Hotel renovieren, wollen wir genau diesen Weg verfolgen und verantwortungsvoll handeln. Wir haben das Haus nur von zukünftigen Generationen geliehen.»
Draussen hat der Wind in der Zwischenzeit zugenommen, die kalte Luft beisst auf den Wangen, feiner Nieselregen sprüht aus den dicken, grauen Wolken über der Insel. Es ist Zeit für ein paar Stunden in der Sauna und für etwas Achtsamkeit. Dafür ist Gotland im Winter ein Traum, laute Après-Ski-Bars gibts hier zum Glück nicht. Nur Einsamkeit und frische Luft.