Am Montagmorgen ist es im Büchersalon des Kosmos fast geisterhaft still. Die Wahl fürs Kulturhaus fiel vor allem der Ruhe halber. Zwei Stockwerke weiter unten befinden sich ausserdem sechs Kinosäle. Passend für ein Interview mit einer Regisseurin. Am 26. November läuft Bettina Oberlis neuer Film, «Wanda, mein Wunder», an. Und wer bis jetzt gezögert hat, ins Kino zu gehen, soll nun dringend hin. Die 47-Jährige entspinnt in ihrem Film ein Kammerspiel um eine Zürcher Goldküstenfamilie, die sich eine polnische Pflegerin in die Villa holt und plötzlich enger mit ihr verbandelt ist, als ihr lieb ist.
GRUEN: Bettina Oberli, Ihr Film beginnt in einem Reisebus mit singenden Polinnen, die als Betreuerinnen in die Schweiz fahren. Die Situation wirkt sehr real!
Die meisten Frauen im Bus im Film arbeiten auch wirklich als Betreuerinnen. Eine davon, Bozena Domenska aus Polen, die seit über 25 Jahren diesen Job macht, ermöglichte mir die Kontakte.
Wieso dieses Thema?
Der Begriff «die Polin» geistert bei mir schon lange rum. In meinem privaten Umfeld gab es wiederholt die Situation, dass Familien nicht wussten, was sie
mit der betagten Mutter, dem Vater, tun sollten. Mein Produzent und ich wollten jedoch kein Sozialdrama nur aus Sicht der Betreuerinnen drehen, sondern auch etwas über die Schweiz erzählen. Über unser Verhältnis zum Geld.
Im Film geht es viel um Ungerechtigkeit. Spüren Sie als Regisseurin eine Verantwortung, gesellschaftliche Probleme sichtbar zu machen?
Ja, aber ich fälle kein Urteil. Im Fall der Betreuerinnen interessierte mich dieses Win-win. Also die Vorstellung, dass alle Beteiligten von der Situation profitieren würden. Das stimmt natürlich nicht. Vor allem wir, die Menschen in der Schweiz, profitieren davon: Es ist ein Win. Die Polinnen verdienen zwar mehr als zu Hause, aber sie verzichten auf ihr Leben. Viele haben zu Hause Kinder oder Eltern, die auch Betreuung benötigen würden.
Im Kurzfilm «Kingdom», der kürzlich fertig wurde, erzählen Sie die Geschichte einer Frau, die den letzten Gletscher bewacht. Ein tieftrauriges Bild. Oder gibt es auch Hoffnung?
Der Film ist eine Dystopie. Es geht um die Frage, ob der Mensch in aussichtslosen Situationen noch fähig ist, empathisch zu sein. Der Film entstand im Rahmen eines Projekts der Uno. Welt-weit machten Regisseure Kurzfilme zum Thema Klimawandel.
«Im Falle der Polinnen interessierte mich dieses Win-win. Also die Vorstellung, dass alle Beteiligten von der Situation profitieren würden. Das stimmt natürlich nicht.»
Gedreht wurde am Rand des Morteratschgletschers im Engadin, der sich rekordmässig zurückzieht. Wie haben Sie den Ort erlebt?
Es war eindrücklich. Wenn man zum Gletscher läuft, sieht man am Wegrand Jahreszahlen, die dokumentieren, wo früher die Spitze der Gletscherzunge
lag. Dadurch erfasst man das Ausmass des Schwundes. Wir schleppten jeden Tag unser ganzes Material durch das Tal, wanderten das Geröll hoch mit der Schauspielerin und den Wölfen, Ziegen und Hasen, die beim Dreh dabei waren.
Das erinnert an «Wanda», wo eine Kuh, ein Hund und eine Menge ausgestopfter Vögel mitspielen.
Es ist lustig, es hat immer Tiere in meinen Filmen …
Und im realen Leben?
Ich hätte sehr gern eine Katze. Zurzeit lässt es die Wohnung nicht zu.
Befassten Sie sich für den Kurzfilm wissenschaftlich mit dem Gletschersterben?
Wir nahmen uns fiktionale Freiheiten – man kann zum Beispiel nicht Wasser vom Gletscher trinken, wie wir das zeigen. Aber generell glaube ich sehr an die Wissenschaft, an die Fakten.
Im Fall des Klimawandels machen diese vor allem Angst.
Sehr! Aber sie ändern sich deswegen nicht.
Beim Film gibt es Initiativen, um die Drehs umweltfreundlich zu gestalten. Haben Sie sich damit beschäftigt?
Ja, die Produzenten und Crews werden diesbezüglich sensibilisiert. Im Moment ist die Situation mit dem Virus einfach total blöd: Man muss wegen der Hygiene Plastikflaschen verwenden, in einem Auto mit neun Plätzen darf nur eine Person transportieren werden, und man muss dadurch viel mehr fahren. Ich habe eh das Gefühl, dass die aktuelle Situation einen schlechten Effekt auf die Umwelt haben wird. Das Thema wird wieder verdrängt.
Umweltschutz ist für Sie demnach nicht erst seit Greta wichtig.
Ich weiss einfach, dass der Klimawandel existiert. Ich sehe es. Ich lese darüber. Das Problem ist bloss, dass der Mensch nicht fähig ist, in die Zukunft zu denken. Solange wir nicht unmittelbar betroffen sind, ist der Klimawandel zu abstrakt.
«Wir haben einen der grössten ökologischen Fussabdrücke. Was wir verursachen, können wir gar nicht kompensieren. Nur den Schaden möglichst gering halten.»
Sind Sie mit diesem Bewusstsein aufgewachsen?
Ja, denn Umweltschutz geht auch mit sozialem Denken zusammen. Dies war meinem Vater, der als Chirurg in Entwicklungsländern arbeitete, immer präsent. Es war bei uns wichtig, dass man nicht nur ans sich denkt.
Als Kind haben Sie zwei Jahre lang auf Samoa gelebt, in der Südsee. Haben Sie an diese Zeit noch Erinnerungen?
Ja, ich erinnere mich an die Natur, an keine Schuhe und viel Musik. Als ich zurückkam, war ich fünf. Ich ging dort in den Kindergarten, konnte die Sprache.
Den Rest Ihrer Kindheit verbrachten Sie in Meiringen im Berner Oberland. Wie eng ist Ihr Bezug zur Natur?
Ich mag Bäume sehr. Aber ich bin auch ein Stadtmensch geworden, seit 1998 bin ich in Zürich. An keinem anderen Ort habe ich so lange gelebt wie hier. Was die Vorstellung vom Landleben angeht, bin ich etwas zurückhaltend. Es wird schnell idealisiert. Gerade aktuell, wo Menschen sich zurückziehen und schützen wollen und man liest, dass Zweitwohnungen auf dem Land gefragter sind als zuvor.
«Ich finde es sehr erfreulich, dass der Fleischkonsum zurückgeht!»
Von einem Aussteigerpaar erzählen Sie im Film «Le vent tourne». Das geht thematisch in die Richtung Landleben.
Das Land ist schön, aber es hat auch etwas Einengendes. Ich bin gern in Meiringen, doch vom Horizont sieht man nur so viel (macht ein V mit ihren Armen). In «Le vent tourne» ging es darum, dass sich dieses Paar seine perfekte Bio-Welt geschaffen hat, aber eben nur für sich selbst. Dieses Einkapseln ist jedoch vorbei. In der heutigen Welt haben wir zu viel Verantwortung. Ich glaube an die Öffnung, an die Zusammenarbeit.
Was für einen Stellenwert hat Umweltschutz in Ihrer Familie?
Unsere Gesellschaft hier hat einen der grössten ökologischen Fussabdrücke der Welt. Was wir verursachen, können wir gar nicht kompensieren. Trotzdem finde ich es wichtig, den Schaden möglichst gering zu halten. Wir haben kein Auto, ich fahre sehr viel Velo.
Fliegen Sie?
Ich nehme sehr, sehr oft den Zug. In der Schweiz und innerhalb Europas. Nur wenn es gar nicht anders geht, steige ich in den Flieger, etwa für die Arbeit.
Wie ernähren Sie sich, ist vegetarisches Essen ein Thema?
Wir kochen jeden Tag und essen meist vegetarisch. Wenn, dann gibt es mal Fisch. Ich finde es sehr erfreulich, dass der Fleischkonsum zurückgeht! Ich kaufe auch auf dem Wochenmarkt ein. Zwar kostet das oft mehr als im Supermarkt, dafür ist die Qualität hervorragend.Ich finde, das ist das Geld wert.