Der Tag endet in einer Gefängniszelle. Die Mauern sind so dick, dass man weder den stürmischen Herbstwind hört noch die Emme, die unten im Tal rauscht. Der Blick durch das kleine Fenster geht zum Hof, auf dem eine Linde ihre stattlichen Äste über den Kiesplatz ausbreitet. Dahinter lässt sich die Freiheit der Emmentaler Hügellandschaft erahnen.
Wir haben Glück. Am Morgen danach verlassen wir als freie Menschen das Zimmer, denn die Gefängniszelle ist längst keine mehr. Im Schloss Burgdorf, das seit über 800 Jahren auf einem Felsen oberhalb der Stadt thront, hat vor gut einem Jahr eine Jugendherberge eröffnet. Touristen statt Insassen nächtigen nun im einstigen Gefängnis. Der dunkle Parkettboden, die bunten Prints auf den Bettdecken und die wunderbar knarrenden Holzschränke machen es einem leicht, sich sofort wie daheim zu fühlen. Neben der Jugendherberge sind im Schloss auch ein Museum sowie ein Restaurant untergebracht. Lecker: die fleischlose BurgerVariante. Die Buns stammen von einer lokalen Bäckerei, dazu gibts Bärner Frites.
Typisch Emmental: Wo heute das Museum Franz Gertsch steht, war früher eine Käserei
Burgdorf ermöglicht seinen Besucherinnen und Besuchern einen kunstvollen Start in den Tag. Das Museum Franz Gertsch eröffnete 2002 auf dem Areal einer einstigen Käserei und zeigt neben der Sammlung von Maler Franz Gertsch auch Wechselausstellungen zeitgenössischer Kunst. Der Museumsbau verbindet die Unter- mit der Oberstadt. Wer sich an der Schmiedengasse auf einen Streifzug begibt, merkt schnell: Hier geht was! Kleine Läden reihen sich aneinander, darunter auch die Boutique Style and Home. Hier gibt es Taschen des Labels Uashmama zu kaufen. Das Tolle daran: Sie sehen aus wie aus Leder, sind aber aus Cellulose, waschbarem Papier, hergestellt. Style-and-HomeBesitzerin Jacqueline Jungi ist auf einer Reise durch die Toskana in Montecatini auf das italienische Label aufmerksam geworden und war begeistert: «Neben dem Look hat mich auch die Produktionsweise überzeugt.» Der Familienbetrieb stellt seine Artikel möglichst nachhaltig her. Auch Resten werden wiederverwertet.
Ein paar Ortschaften weiter gibt es den Unverpackt-Laden Dorfmitti Lützelflüh von Sabine Rothenbühler zu entdecken. Im ehemaligen Denner, mitten im 400-Seelen-Ort, hat die Emmentalerin vor einem Jahr ihren Traum verwirklicht und mit zwei Partnern ihr erstes Geschäft eröffnet. Das Konzept ist simpel und namensgebend: Möglichst viele Produkte werden unverpackt angeboten. Auf die Idee kam Rothenbühler dank ihres Wandels des Lebensstils. «Ich bin vor einigen Jahren mit der ZeroWaste-Bewegung in Kontakt gekommen, und seither versuche ich, möglichst wenig Abfall zu produzieren.» Für ihre Einkäufe fuhr die gelernte Köchin deswegen von Lützelflüh nach Bern. «Da kam mir die Idee, dass ich selber so etwas aufziehen könnte.»
Mittlerweile ist ihr Geschäft zu einem Treffpunkt für die Bevölkerung geworden. «Inzwischen fragen sogar regionale Landwirte, was sie für uns anpflanzen sollen. Jeder will seinen Beitrag leisten.» Sieben Betriebe, die ihre Waren vor allem unverpackt anbieten, sind laut Rothenbühler im letzten Jahr im Emmental eröffnet worden. Auch sie will ihre Geschäfte weiter wachsen lassen. Ihr nächstes Projekt: «Ein Bistro, das Jung und Alt zum gemütlichen Beisammensein einladen soll.»
Die Kulturbeiz Käpt’n Holger in Langnau im Emmental hat eine gemeinschaftsfördernde Aufgabe
Uns zieht es gegen Abend nach Langnau im Emmental, ins Lokal Käpt’n Holger. Hier stehen bunte Gartentische unter weissen Sonnenschirmen. Die Kulturbeiz wird seit 2016 von Jan Wolter und den Brüdern Luca und Manuel Stucki geführt. Die drei kennen sich seit der Kindheit und haben in Langnau schon als Teenager zusammen Konzerte und Events organisiert. Als die Möglichkeit kam, die Räumlichkeiten an der Dorfstrasse zu übernehmen, zögerten sie nicht. «Wir hatten lange davon geträumt, einmal zusammen ein Lokal zu führen», sagt Geschäftsführer Jan Wolter in T-Shirt und mit Baseballmütze. «Naadisnaa» hätten sie das «Käpt’n Holger» vergrössert, ihr Angebot immer weiter ausgebaut. Sie veranstalten auch Konzerte, Lesungen, Bierdegustationen oder Spieleabende und wurden dafür in diesem Jahr mit dem Langnauer Kulturpreis ausgezeichnet. Neben der Anerkennung gibt es 10000 Franken. Das motiviere natürlich. «Damit realisieren wir nun neue Projekte», sagt der 32-Jährige. «Das ‹Käpt’n Holger› hat durchaus auch eine gemeinschaftsfördernde Aufgabe. Es gibt wenig Beizen, also kommt bei uns Jung und Alt, quasi der gesamte Ort, zusammen. Daher ist es uns wichtig, dass sich hier alle wohlfühlen.» Neben der Barkarte mit Apéro-Plättli, Quiche und Panini gibt es aus der hauseigenen Küche saisonale und fleischlose Gerichte, die so gut wie möglich mit regionalen Zutaten gekocht werden. Das Mehl stammt aus der Emmental-Mühle im nahen Schüpbach, das Gemüse vom Verein Food Save Emmental, und die Freilandeier werden in Emmenmatt gelegt.
Am zweiten Tag unseres Wochenendes widmen wir uns den Emmental-Klassikern schlechthin: den sanften Hügeln und der Natur. Dazu reisen wir ins Tal nach Zollbrück zu Martina Krähenbühl. Die 42-Jährige hat in ihrem Garten in den vergangenen vier Jahren ihr Kräuterparadies erschaffen, eine Idylle wie aus dem Bilderbuch. Es riecht nach Honigklee, Bienen schwirren geschäftig umher, während die Morgensonne alles in dieses besondere Licht rückt. Krähenbühl, die sich in ihrem Beruf als Floristin nicht lange wohlgefühlt hat, absolvierte eine Weiterbildung in Pflanzenheilkunde. Seit 2015 bietet sie Heil- und Wildpflanzenkurse an. «Das Emmental ist eine Schatzkammer voller heilender Kräuter und Pflanzen.» Krähenbühl verbindet auf ihren Kräuterspaziergängen ihre beiden Leidenschaften: «die Kräuter und die Emmentaler Hügel». Aufgewachsen im bernischen Huttwil, hat es Krähenbühl schon früh ins Emmental gezogen. «Sobald ich einmal länger weg bin, vermisse ich diese einzigartige Landschaft.» Sie sei stolz, hier leben zu dürfen. «Deswegen zeige ich die Region auch so gerne den Besucherinnen und Besuchern.» Am Mittag machen wir uns auf den Weg Richtung Napf, den mit 1406 Metern über Meer höchsten Punkt der Emmentaler Alpen. Der Gipfel befindet sich auf Berner Boden, nur wenig nördlich davon verläuft die Grenze zum Kanton Luzern. Von der Mettlenalp sind es etwas mehr als eine Stunde steiler Fussmarsch zum Napf. Wir habens schon zu Beginn der Reise in unserer Gefängniszelle geahnt: Diese Hügellandschaft, das ist die grosse Freiheit!