Als Charlotte Chable im Schnee liegt und auf den Rettungs-Helikopter wartet, blickt sie auf die Piste. Sieht zu, wie sich ihre Teamkolleginnen auf dem Gletscher oberhalb von Saas-Fee durch die roten und blauen Stangen schlängeln, das Skifahren geniessen. Und sie denkt: «Vielleicht komme ich nie mehr hierher.» Das tut weh. «Mega, mega fest.»
Chable spürt, dass ihr Knie wieder schwer verletzt ist. Und sie weiss, was sie erwartet, wie lange der Weg zurück ist: Der Kreuzbandriss jenes 15. Septembers 2020 ist bereits ihr vierter, der dritte im rechten Knie. Aber es ist der erste, nach dem sie zweifelt, ob sie den Weg zurück noch einmal findet. Oder überhaupt finden will. Denn es sind nicht nur die sechs Monate Reha, bis das Skifahren wieder möglich ist. Es dauert auch, bis das Vertrauen wieder da ist und die Schmerzen weg sind. «Ich bin nicht mehr hundert Prozent sicher, dass ich weiterfahren will. Das ist ein neues Gefühl — und es macht mir Angst.»
Es liegt in der Natur des Profisportlers, den Blick schnell wieder nach vorn zu richten. Ziele und der Glaube an sich bleiben. Niederlagen und auch Verletzungen gehören zum Berufsalltag, wer sich nicht schnell damit abfinden kann, schafft es kaum an die Spitze. Bei Marc Gisin reichte diese Einstellung selbst nach den übelsten Verletzungen, um von Tag eins an wieder Vollgas zu geben und optimistisch nach vorn zu blicken. «Aber diesmal ist der Deckel drauf. Ich spüre das Potenzial nicht mehr wirklich.» Das Skifahren machte dem Engelberger in den letzten Monaten keinen Spass mehr, weil der Ski nicht mehr macht, was er sollte. Eine diffuse Geschichte sei es, als Folge der Kopfverletzung im Dezember 2018. «Es ist ein Durchseuchen in der Hoffnung, dass sich der Körper ganz erholen wird. Und das ist eine neue Situation für mich.»
«Ich habe immer hart gearbeitet, gekämpft und war mir sicher: Irgendwann kommt deine Zeit!»
Gisin, 32, und Chable, 26, standen beide nie auf einem Weltcup-Podest, hätten aber fraglos das Potenzial dazu. Slalom-Spezialistin Chable wird seit zehn Jahren immer wieder durch Verletzungen zurückgeworfen, bei Abfahrer Gisin sind es vor allem die Horrorstürze in Kitzbühel 2015 und Gröden 2018, die ihn seit Jahren in unterschiedlicher Form beschäftigen. Nun stehen beide vor einschneidenden Monaten: Gisin will sich bis zum Beginn der Speedsaison Mitte Dezember entscheiden, ob er weiterfährt, Chable im Frühling nach der Reha.
Dass sie dabei einzig auf ihr Herz und ihren Körper hören muss, hat ihr Marcs Schwester Dominique Gisin geraten. Mit der oft verletzten Olympiasiegerin von 2014 hat Chable nach ihrer jüngsten Blessur telefoniert. Es tat ihr gut, zu hören, dass es auch anderen so ging wie jetzt ihr: Dass sie plötzlich nicht mehr weiss, ob sie die Kraft für ein Comeback nochmals aufbringt. Zwar sind Chables Träume noch dieselben wie 2015, als sie in ihrem zweiten Weltcuprennen gleich auf den 11. Rang fuhr, als nächste Slalom-Sensation nach Wendy Holdener gehandelt wurde. «Aber ich bin nicht mehr 20. Ich will auch mal Mutter sein, ein normales Leben haben, muss Geld verdienen», sagt sie. «Und ich frage mich, wie lange es wohl dauert, bis ich wieder so locker fahren kann wie im Sommer.»
Denn so gut wie vor der Verletzung hatte sie sich schon sehr lange nicht mehr gefühlt. Nach dem dritten Kreuzbandriss ging sie über ein Jahr lang jeden Tag mit Schmerzen ins Training. Fürchtete, sich erneut zu verletzen. Als sie wieder startete und es nicht gleich funktionierte, verlor sie zuerst das Selbstvertrauen, damit die Lockerheit und letztlich den Spass. Zwischen den Rennen bleibt kaum Zeit, durchzuatmen, sich zu fokussieren und im Training das Vertrauen zurückzugewinnen. Ein Teufelskreis, den sie mit viel Geduld, Mentaltraining und einem Skimarkenwechsel durchbrach. Und wieder Freude am Fahren verspürte — dreieinhalb Jahre nach der Verletzung! «Ich war konditionell bereit, technisch gut, im Kopf locker. Es hat alles gepasst, wirklich!» Und dann: wieder verletzt.
«Ich habe immer so hart gearbeitet, und ich war sicher: Irgendwann kommt deine Zeit, du schaffst das!», sagt sie und kämpft wieder mit den Tränen. Viel hat sie geweint in diesen Wochen, selbst das Beantworten der Gute-Besserungs-SMS schmerzte sie. Eigentlich ist sie eine äusserst optimistische Person, ihr Strahlen zieht einen in Bann. «Ich versuche auch jetzt, positiv zu sein. Aber es ist schwer.» Immer habe sie gedacht, alles geschehe aus einem Grund. «Aber jetzt denke ich, was soll das denn für ein Grund sein?»
«Es ist ein Durchseuchen in der Hoffnung, dass sich der Körper wieder ganz erholen wird.»
Es ist nicht nur eine Frage ans Universum, sondern auch an die Wissenschaft: Gibt es Athletinnen und Athleten, die sich schneller verletzen? Jein, sagt Walter O. Frey, Chefarzt von Swiss-Ski. Ein Hüftgelenk zum Beispiel kann tatsächlich so geformt sein, dass es Extrembelastungen schlecht aushält. Das Knie aber weniger. Dafür spielt dort das Geschlecht eine Rolle: Bei Frauen reisst etwa das Kreuzband häufiger als bei Männern. Was die Ärzte zudem beobachten: «Wenn man schon mal eine Verletzung hatte, ist die Chance auf eine zweite viel grösser», so Frey. Selbst wenn eine perfekte Reha erfolgte, sei der physikalische Mensch irgendwo angegriffen. Deshalb setzt das medizinische Team bereits Anfang Teenager-Alter auf Prophylaxe, versucht, die Faktoren Umgebung, Material und Mensch so gut wie möglich zu optimieren. So, dass die erste Verletzung möglichst lange hinausgezögert werden kann. Dennoch: «Skifahren ist eine hochenergetische Sportart.» Riesige Kräfte wirken auf eisigen Pisten. «Diese Energie muss manchmal im Rahmen eines Sturzes vernichtet werden, und das an der schwächsten Stelle: dem Menschen. Da kann man präventiv machen, was man will.»
Kompliziert ist, wenn man wie bei Marc Gisin nicht genau weiss, wo das Problem liegt. 2018 stürzt er in Gröden schwer, er bricht sich Dutzende Knochen, hat eine Lungenquetschung, die ihn beinahe das Leben kostet. Doch die erlittene Kopfverletzung war beim Sturz in Kitzbühel 2015 eigentlich noch schlimmer. So steht er im August 2019 wieder auf den Ski, mit dem Gefühl, alles sei in Ordnung. Doch schnell spürt er, dass etwas nicht stimmt. Schiebt es auf sein Unterbewusstsein ab, auf das Vertrauen, das nach dem Sturz noch fehle. Doch es geht um die Wahrnehmung von sich selbst im Raum und in Bezug zu allem andern — was er aber erst viel später herausfindet. Gisin versucht es greifbar zu machen: «Wenn du nicht wirklich spürst, wie sich der Ski verhält, dann setzt du vermeintlich am richtigen Ort an für die Kurve, dabei bist du am falschen und merkst es nicht.» Der Ski macht nicht, was Marc will. Auf einer Abfahrt: brandgefährlich.
Bei seinen wenigen Starts Ende 2019 fährt er darum halb aufrecht hinunter, dann bricht er die Saison ab. «Zwischen August und Januar lief ich auch psychisch am Limit, weil ich nur am Grübeln war.» Niemand kann ihm sagen, wo das Problem liegt, immer wieder gibt es eine neue Theorie. «Das braucht Nerven, Geduld und Energie.» Nach einer Pause und vielen Tests beginnt er mit spezifischen Übungen für die Wahrnehmung und Koordination: Auf einem Bein stehen, einen Punkt fixieren, dann den Kopf drehen. Viele Sprünge. Er geht zum frühestmöglichen Zeitpunkt im Sommer auf den Schnee, um möglichst viel zu fahren. Er macht Fortschritte, doch es bleibt frustrierend, ein diffuses Problem, für das es nicht den einen richtigen Fahrplan gibt. «Es ist nicht annähernd zu vergleichen mit meinen anderen Verletzungen.» Als er im Nachgang zum Sturz 2015 eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelte und kaum mehr schlief, zog er sich zurück und liess kaum jemanden mehr an sich heran. Heute spricht er offen über seine Gefühlslage, die Schwierigkeit, Motivation zu finden, wenn es ständig «einen Schritt vorwärts und 0,9 zurück» geht. Und darüber, dass er vielleicht den Bettel hinschmeisst und studieren geht, wenn er bis im Dezember nicht konkurrenzfähig ist. «Ich will nichts erzwingen oder bloss ein bisschen mitfahren.» Man spürt: Der Spass ist weit weg. Und ebenso das unerschütterliche Vertrauen, dass es wieder gut kommt, er eines Tages sein Potenzial wieder ausschöpfen kann. Und damit wird einem schliesslich das genommen, was den erfolgreichen Athleten auszeichnet: Immer nach vorn schauen, nie aufgeben.