Die Scheibe im «Robin Hood of St Albans» ist freigelegt. Lia Wälti öffnet die mitgebrachte kleine Schachtel und baut die gold-schwarzen Teile drin zusammen. Fertig sind die Dartpfeile, alles bereit fürs Spiel. Es ist später Nachmittag im Pub, doch auf dem Tisch steht Tee statt Bier. «Ich hab das auch erst hier gelernt, dass es bei der Pub-Kultur in England nicht nur ums Trinken geht», sagt Wälti und lacht. Die Lokale sind ein Ort der Begegnung, nicht nur des Ausgangs. Und so sitzen die Fussballerinnen von Arsenal regelmässig in den Pubs von Saint Albans im Norden Londons und spielen Darts, Uno oder andere Kartenspiele, nach ihrem Geschmack mit eigenen Regeln frisiert, die die Spiele schneller machen.
Seit anderthalb Jahren spielt Wälti in England, hat ihren Vertrag mit Arsenal London kürzlich bis 2023 verlängert. Der Schritt zu einem der besten Klubs der Welt war gross, doch die 26-Jährige ist längst auch hier, was sie bei ihren vorigen Stationen YB und Potsdam war – und im Schweizer Nationalteam ist: eine Führungsspielerin auf und neben dem Platz. «Ich habe es in meinem Naturell, dass ich gerne Verantwortung übernehme», sagt sie. Bei den Young Boys war sie mit 19 Jahren Captain, bei Turbine Potsdam in der Bundesliga mit 21 und in der Nati, seit Lara Dickenmann im vergangenen Jahr zurückgetreten ist. Dabei ist die defensive Mittelfeldspielerin, die am liebsten als Sechser die Fäden für ihre Teams in der Hand hält, eine Leaderin mit Gefühl. Sie führt ungern geplante Gespräche, sondern dann und dort, wo sie spürt, dass es nötig ist.
In der englischen Women’s Super League wurde Wälti bereits in ihrer ersten Saison ins Team der Liga gewählt. Eine Überraschung. Zwar läuft es ihr von Beginn weg einwandfrei und auch dem Traditionsklub, der 2019 Meister wird. Doch die zweite Hälfte der Saison fällt Wälti mit einer Knieverletzung aus, die zuerst falsch diagnostiziert wird. So verliert sie schon Monate, bevor das gerissene Aussenband doch noch operativ durch ein Plastikband ersetzt wird. Knien kann Wälti noch nicht wieder richtig, auf dem Platz jedoch hat sie im Kopf keine Barrieren mehr. «Für mich gibts keine Option B, mein Spiel besteht aus Zweikampf. Kann ich das nicht, reichts nicht auf diesem Niveau.» Doch es reicht: Alle schwärmen von ihr, ihrer Spielübersicht und -intelligenz, ihren präzisen Pässen. «Schlicht Weltklasse», sagt die frühere Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg.
”Ich habe es in meinem naturell, dass ich gerne Verantwortung übernehme“
Lia Wälti
Arsenal spielt diese Saison noch um vier Titel mit. In der Liga liegen sie drei Punkte hinter Leader Manchester City, in der Champions League wartet im Viertelfinal Paris Saint-Germain. «Für den Final brauchen wir vielleicht noch ein, zwei Jahre», schätzt Wälti ein. Die Unterschiede zu England nach vier Jahren Bundesliga sind gross. Erstens ist Arsenal ein viel besseres Team als Potsdam, der Druck zu siegen hoch. So sind die Rollen enger gesteckt, wird weniger Risiko eingegangen. Für Wälti heisst das, dass sie die Verteidigung unterstützt, beim Aufbauspiel hilft, aber keine grossen Ausflüge nach vorn unternimmt. Weiter ist der deutsche Fussball vielmehr von Taktik geprägt, in England von der Physis. «90 Minuten lang kämpfen, rennen, voll gehen», beschreibt es Wälti.
Die Unterschiede sind auch in der Mentalität spürbar. Wälti empfand sie in Deutschland als etwas verkrampft, fast schon mit Röhrenblick. In England gebe man zwar auf dem Platz 200 Prozent, sei daneben aber etwas entspannter – da gibts noch mehr als Fussball. «Das geniesse ich extrem.» Denn die Emmentalerin selbst spielt auch besser, wenn die Schrauben neben dem Sport nicht ganz so eng angezogen sind im Leben. «Ich habe es ganz gut im Gespür, wann es was verträgt.» Sie lernt Sprachen, ist gesellig, strickt. Ihr Sportmarketingstudium hat sie aus Zeitgründen auf Eis gelegt, doch ist ihr bewusst, dass der Moment wieder kommt, in dem der Kopf gefordert sein will. In Saint Albans im Norden von London, nahe von Arsenals Trainingsgelände, lebt Wälti mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Meret zusammen, die früher auch bei YB gespielt hat und heute in London studiert. Wenn es der Spiel- und Trainingsplan erlaubt, geht Lia auch mal mit Salsa tanzen – das Bewegungsgefühl haben sie als Töchter einer Bauchtanzlehrerin im Blut.
Die beiden sind in Langnau aufgewachsen, einem Hockeydorf also, und entsprechend verwandelte der Vater den Garten im Winter in eine Eisfläche. Doch er übernahm eben auch das erste Frauen-Fussballteam des Ortes, und während die beiden Mädchen zuerst nur am Spielfeldrand «tschüttelen», blieben sie bei diesem Sport hängen. Was wiederum den Vater inspirierte, sich noch mehr im Frauenfussball zu engagieren.
In England investieren die grossen Vereine seit einigen Jahren intensiv in ihre Frauensektionen. Wälti und ihr Team trainieren auf denselben Anlagen wie die Männer, «16 Plätze, einer schöner als der andere», schwärmt sie, da die Frauen sonst «zu 80 Prozent» selbst Länderspiele auf Grümpelfeldern austragen müssen. Auch beim Betreuungsstab ist Arsenal top, vom Ernährungsberater bis zum Videoanalysten wird alles geboten.
Vor allem am Montag, dem Regenerationstag mit Eisbädern, Massagen oder Fitnessraum, treffen auf dem Arsenalgelände zwei Welten aufeinander. Hier die Stars der Männermannschaft wie Nicolas Pépé oder Pierre-Emerick Aubameyang mit Marktwerten um die 80 Millionen Euro, da das Frauenteam, dessen Salär einem guten Bürojob in der Schweiz entspricht. Was international allerdings bereits top ist: Dass frau mit Fussball ihren Lebensunterhalt bestreiten kann.
Hier läuft Wälti ab und zu Granit Xhaka über den Weg – dem anderen Captain der Schweizer Fussballnati, der bei Arsenal unter Vertrag steht. Wälti findet die Gespräche mit ihm oder etwa den anderen Spielern, die sie im Kraftraum während der Reha kennengelernt hat, spannend. An die riesigen Lohnunterschiede verschwendet sie längst keinen Gedanken mehr, und die permanente Aufmerksamkeit als Spieler eines solch berühmten Vereins vermisst sie auch nicht. Aber es interessiert sie, wie das Leben auf jener Seite aussieht: Lebst du wirklich deinen Jungentraum? «Sie sind immens unter Druck, das hat man ja bei Granit im letzten halben Jahr gesehen», sagt Wälti. «Ich bin überzeugt, dass es nicht für alle das Traumleben ist und es viele beschissene Momente gibt.» Von Granit komme ab und zu ein Gratulations-SMS, und ein paar der Arsenal-Spieler lassen sich auch mal bei den Frauenmatches blicken: Héctor Bellerín etwa oder David Luiz.
”Ich will keinen Luxus oder Porsche. Aber die Kontraste sind schon spannend“
Lia Wälti
Zum Staunen bringt Wälti, wenn sie im Gespräch merkt, dass die meisten Männer keine Ahnung haben, wie die Realität im Frauenfussball aussieht. Ein Beispiel: Haben die Frauen Zusammenzüge des Nationalteams, müssen sie jeden Kaffee in der Hotellobby selbst bezahlen. Bei Reisen mit dem Flugzeug ist der Treffpunkt ein paar Stunden früher, weil das Team die ganzen Kisten mit dem Material selber schleppen und verladen muss. Das wäre bei den Männern undenkbar. «Ich will keinen Luxus und keinen Porsche. Aber die Kontraste sind schon spannend.»
Das Schweizer Frauen-Nationalteam -befindet sich im Moment in einer Findungsphase: Der Rücktritt von arrivierten Spielerinnen wie Dickenmann sowie der Trainerwechsel von Voss-Tecklenburg zu Nils Nielsen waren einschneidend. Spricht Wälti von der verpassten WM 2019, die dem Sport viel Aufmerksamkeit besorgt hat, spürt man ihr die Enttäuschung immer noch an. Längst ist das Team aber mitten in der Qualifikationsphase zur EM 2021, wobei den Schweizerinnen entgegenkam, dass sie in den ersten Partien gegen schwächere Teams ranmussten. Punktgleich mit Leader Belgien stehen sie auf Platz zwei, am 14. April treffen die beiden Teams nun aufeinander. «Dort sehen wir, wie weit unser Team wirklich ist», sagt Wälti.
Die Singlefrau sieht im Team zwar eine gute Mischung, aber auch noch einiges zu tun: Die jungen Spielerinnen sollen so konstant werden, dass sie das Team auch mal auffangen können, wenn die Leaderinnen keinen guten Tag haben. Einige von ihnen spielen neu im Ausland, und Wälti hat lange Telefongespräche mit ihnen geführt, um zu spüren, ob sie dazu bereit seien, und um ihnen ihre eigene Erfahrung mitzugeben. «Ich habe gemerkt: Wenn du etwas von dir gibst, trauen sie sich auch zu fragen. Und sie schätzen ehrliche Worte. Ich hab nicht jeder geraten: Tu es!» Und dann gibt es Spielerinnen, die langsam bereit sind, auch neben dem Platz mehr Verantwortung zu übernehmen, Wälti zählt Noëlle Maritz vom Vfl Wolfsburg dazu oder Eseosa Aigbogun vom Paris FC.
Endrundenteilnahmen sind die grösste Plattform, die es für den Frauenfussball gibt: Dort sind die Medien, dort schauen Leute zu, weil Länderspiele immer ziehen. Die EM-Qualifikation zu schaffen, wäre deshalb immens wichtig. Wälti war bei der erstmaligen Teilnahme der Schweizerinnen an der WM 2015 und der EM 2017 dabei. «Dieses Gefühl, gemeinsam etwas so Historisches zu erreichen, war recht cool. Das sind die Spiele, für die man als Sportlerin lebt.»
Die EM 2021 wird in England ausgetragen. Hier kennt Wälti alles: die Stadien, die Fans, die Medien. Und mit der Pubkultur ist sie mittlerweile auch vertraut. Auf dass 2021 Bier statt Tee auf dem Tisch steht.