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John John Florence

Künstler aus dem Meer

Seine Kollegen nannten ihn früh den besten Surfer der Welt. Bevor die Resultate kamen, musste John John Florence aber lernen, den Wettkampfgedanken mit seiner spirituellen Annäherung ans Surfen zu vereinbaren.

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John John Florence

Auf dem ewigen Ritt: John John Florence, wo er sich am wohlsten fühlt: im Meer auf dem Surfbrett.

Nate Lawrence

Als John John Florence zum ersten Mal hört, dass er der nächste Dominator des Surfsports sein würde, ist er noch Primarschüler. Er wird der beste Surfer genannt, noch bevor er auf der World Surf League’s Championship Tour (WSL) regelmässig siegt. Und irgendwann gewinnen die Geschichten über ihn so an Fahrt, dass die fehlenden Titel gar zu seinem Mythos beitragen. Die Medien und sogar seine Surferkollegen munkeln, dass er bis 2016 nicht so wenig gewonnen habe, weil er es nicht konnte – sondern weil er es schlicht nicht wollte. 

Das findet sogar Florence selbst amüsant, mittlerweile ein zurückhaltender, 26-jähriger Mann, 1,89 Meter gross, 79 Kilogramm schwer. Die unfassbar hellen blonden Locken aus seiner sonnenverwöhnten Kindheit auf Hawaii sind längst kurz geschnittenem Haar und ein paar wilden Bartstoppeln gewichen. Noch immer aber steigt er mit seinem Surfbrett wie eine Möwe über den Wellen auf, wirbelt dort oben, in der Luft. Landet er in ihren Tälern, klebt das Brett an seinen Füssen. Und noch immer staunen die Zuschauer ob seiner Vielseitigkeit. «Schaut bloss, wie er im Barrel verschwindet und eine Ewigkeit später wieder auftaucht, unversehrt am Gleiten.» 

Florence weiss, dass selbst die Kurzfassung seiner Geschichte klingt wie aus dem Bilderbuch. Er ist der älteste von drei Brüdern, aufgewachsen an der bekannten North Shore der hawaiianischen Insel Oahu. Seine Mutter alleinerziehend. Alex Florence ist ein farbenfroher Freigeist. Mit mittlerweile 50 Jahren surft und skateboardet sie immer noch täglich. Einmal witzelt sie, dass sie ihre Jungs als «Punkrocker im Innern und Sportler im Äusseren» sieht. 

alex bekommt john john als sie 22 ist, und lässt sich nach fünfeinhalb Jahren vom Vater der drei scheiden, dem Alkoholiker John L. Florence. Kurze Zeit später verlässt er Hawaii. Alex und ihre Jungs ziehen oft um und leben manchmal monatelang an Orten wie Bali, die Alex aus früheren Reisen um die Welt kennt. Das Geld ist oft knapp. Immer wieder kehren sie in kleine Mietshäuschen an die Nordküste Oahus zurück. Neben ihrer Arbeit verdiente Alex etwas Geld damit, andere Surfer für 20 oder 30 Dollar auf dem Estrich des Hauses schlafen zu lassen, manchmal fünf oder acht von ihnen gleichzeitig. 

Aus der Sicht von John John ist seine Kindheit ein Eden aus weissen Sandstränden, seine Brüder und seine Mutter sind seine besten Freunde. Und er liebt das Leben in dieser kleinen, eng verbundenen Gemeinschaft, in der jeder zum andern schaut und sich alles um den Ozean dreht. An der North Shore nennt man die Nachbarn Onkel und Tante, auch wenn es keine Verwandten sind, und den Kindern wird beigebracht, die Älteren um deren Weisheit willen zu respektieren. Es ist ein windgepeitschter Ort von rauer Schönheit, der sich manchmal wie eine eigene kleine Welt anfühlt, obwohl er nur eine Autostunde von Honolulu entfernt liegt und seit Langem ein Mekka für die besten Surfer der Welt ist.

Surfen John John Florence

John John Florence hat sich neben dem Sport als Filmer und Produzent von Surffilmen einen Namen gemacht. 

Ture Lillegraven/August

”Ich sehe meine Jungs als Punkrocker im Innern und Sportler im Äusseren“

Alex Florence, Mutter

Die Route von Honolulu führt an -Feldern und Bauernhöfen vorbei, an nebelverhangenen Bergen, bevor man den Küstenabschnitt erreicht, der als «Sieben-Meilen-Wunder» bekannt ist, weil er all die bekannten Surfplätze wie Rockpiles, Log Cabins, Off the Wall, Backdoor, Sunset Beach und Pipeline beherbergt. Florence lebt gleich über die Strasse der berüchtigten Pipeline und hat als Mentoren zahlreiche lokale Brettmacher und legendäre Surfer, von Jamie O’Brien bis zum elffachen Weltmeister Kelly Slater, der ein Freund bleibt. Florence ist ein solches Wunderkind, dass er bereits im absurd jungen Alter von fünf Jahren hinauspaddelt. Mit 13 misst er sich in der Triple Crown of Surfing gegen die Weltbesten, und 2011 qualifiziert er sich im Alter von 18 Jahren für die WSL Tour. Der Durchbruch ist umso erstaunlicher, da er sich weniger als ein Jahr davor einen Rückenwirbel bricht: Bei einem Ritt auf einer riesigen Welle, die plötzlich wie ein Wasserstrahl in die Höhe schiesst und auf Florence stürzt. Vier Monate lang ist das Jungtalent ausser Gefecht gesetzt.

Was er aus diesem Unfall mitnimmt, sind nicht etwa mehr Angst oder Erinnerungen an den Vorfall – sondern die Tatsache, dass er nicht surfen konnte. «Brutal» nennt er dies. 

Eine vielsagende Reaktion. Dass ihn der Surf-Entzug am meisten mitnimmt, erklärt vieles, was seither im Profi-Surfen bei ihm passiert ist – Gutes wie Schlechtes. Denn Florence schafft den Durchbruch tatsächlich und gewinnt 2016 und 2017 endlich den WM-Titel der WSL-Tour, den zweiten im letzten Event der Saison, den Pipe Masters und damit an derselben Stelle, an der er verunfallt war.

Die zweite Hälfte der Saison 2018 verpasst er wegen einer Knieverletzung, von der er erst im Nachhinein zugibt, dass das Kreuzband dreiviertel gerissen war. Florence hält sich an die Meinung der wenigen Ärzte, die ihm sagen, er könne es mit Reha versuchen und so eine Operation vermeiden. Als er in diesem Jahr zurückkehrt, gewinnt er zwei seiner vier ersten Events und ist auf gutem Weg zu seinem dritten Weltmeistertitel, als er am 22. Juni dasselbe Knie bei einem Sprung an einem Tour-Stopp in Rio wieder verletzt. Florence wartet bis zum 2. Juli, bis er vermeldet, dass das Kreuzband diesmal ganz gerissen sei und er sich einer Operation unterziehe, um «nächstes Jahr wieder auf 100 Prozent» zu sein. 

Viele wollen von Florence wissen, weshalb er plötzlich so regelmässig gewinne. John John ist zwar ein entspannter, aber auch sehr nachdenklicher Mensch, und so versucht er zu erklären, was bei ihm den Knoten platzen liess. Er schaffte es, so sagte er, dieses eine Risiko zu eliminieren, das er nicht zu tragen bereit war: Dass Wettkämpfe seine Beziehung zum Surfen selbst ruinieren würden. Man versteht dies besser, wenn man mehr über seine Auffassung eines perfekten Tages weiss. Und etwas über die WSL Championship Tour selber.

Surfen John John Florence

Poleposition: John John Florence wächst an der North Shore der hawaiianischen Insel Oahu auf, direkt gegenüber des bekannten Surfstrandes «Pipeline».

Ture Lillegraven/August

”Du bist gänzlich präsent, im Moment. Du surfst und denkst an nichts anderes auf der Welt“

John John Florence
John John Florence

18. Oktober 1992
johnjohn-florence.com
Insta: @john_john_florence
FB: @JohnJohnFlorence

Florence ist nicht der erste, der das Surfen in spiritueller Weise beschreibt oder definiert. Es gibt reichlich Surfer, die von der Glückseligkeit schwärmen, die das Wellenreiten erzeugt. Vom Adrenalinrausch, den der Sport liefert, von Menschen, die jeden Tag ihres Lebens surfen, ja surfen müssen, komme, was wolle. Aber was braucht es, um einen WSL-Titel zu gewinnen? Die Tour besteht aus elf Stopps von Australien über Indonesien, Brasilien, Südafrika, Europa bis nach Hawaii. Die Vielfalt der Herausforderungen ist riesig. Es ist ein ebenso schöner wie grauenhaft gefährlicher Sportcircuit – eine Unternehmung, die potenziell tödlicher ist als die Formel 1 und mindestens so knochenbrechend und bänderreissend wie alpines Skifahren. 

Florence hat Menschen sterben sehen in der Pipeline. Er hat gegen die Panik angekämpft, während er unter einer Reihe von Wellen gefangen war. Seine Mutter sagt, dass er «fast alles» gebrochen habe, Handgelenk, Arm, Knöchel, Wirbel. Neben der puren Kraft der Wellen lauern im Wasser Sandbänke, Steine oder Riffe. Aber den WSL-Weltmeistertitel zu gewinnen, ist nicht nur physisch fordernd. Es kann sich beliebig anfühlen, wie jeder Event entschieden wird. Die Juroren bewerten alles, von der Grösse der Welle, die der Surfer erwischt, bis zum Stil und den Tricks, die er zeigt, während er die Welle reitet. Wenn in dieser Zeit bloss lausige Wellen kommen, kann man kaum etwas tun. 

Bei Florence gab es noch einen anderen Faktor, weshalb er mit 24 ein Underachiever war: Er hat viele andere Interessen – Fotografie, lesen, Meditation, Flugzeuge fliegen, eigene Boote bauen und segeln, sogar Bienen züchten. Die Tricks in der Luft hat er beim Snowboarden und Skateboarden abgeschaut, zwei andere Favoriten, zu denen er dank seiner Mutter kam. Florence ist auch ein versierter Filmemacher. Ab 2012 dreht er in Co-Regie mit Blake Kueny den Film «The View from A Blue World», ein lyrischer und wunderschöner Surffilm, der 2015 herauskommt und zwei Millionen Dollar kostet. Er wird weitgehend als bester Surffilm der Geschichte gerühmt. 

Surfer John John Florence

Die hellblonden Locken sind seit Florences Kindheit sein Markenzeichen. Bereits als Primarschüler wird er als nächster Surf-Superstar gehandelt.

Nate Lawrence

”Wettkämpfe sind eine einmalige Möglichkeit, sich selbst besser kennen zu lernen“

John John Florence

Florence gibt zu, dass der Film phasenweise eine Menge seiner Zeit verschlang. Aber er bestreitet auch, dass es ihm nicht wichtig genug sei, den WM-Titel zu gewinnen. «Ich gebe wirklich mein Bestes», wiederholt er immer und immer wieder. Nur ein paar Monate nach dem Filmstart wird er von einem Journalisten des Magazins GQ gefragt, was er als perfekten Tag definieren würde. Er sagt: «Die beste Version des Surfens ist nicht der Wettkampf. Sondern: Du bist gänzlich präsent. Gänzlich im Moment. Du denkst an nichts anderes in der Welt. Du surfst einfach mit deinen Freunden oder deiner Familie. Du bist einfach da.» Erst nach seinen beiden WM-Titeln erklärt er der Öffentlichkeit ausführlich, was sich geändert hat, wie er den Schlüssel zum Gewinnen schliesslich doch gefunden hat. «Für mich war Surfen ein spassiges Ding, weit weg von Konkurrenz. Einfach lachen und loslassen.» So sei man bei Wettkämpfen allerdings nicht erfolgreich, fügte er danach selbstironisch an. Er realisierte schliesslich, dass er seine Herangehensweise ändern muss. «Nach all den Niederlagen merkte ich, dass Wettkämpfe eine einmalige Möglichkeit sind, sich selbst besser kennen zu lernen. Du erlebst dort all die Höhen und Tiefen und musst herausfinden, wie du mit diesen Emotionen umgehst … und da habe ich angefangen, mich zu verbessern. Und nun glaube ich fast, so merkwürdig das klingen mag, dass Wettkämpfe für mich mental befriedigender sind, als frei zu surfen.» 

Es spricht für ihn, dass er den Dreh für sich gefunden hat. Er weiss jetzt, dass seine Karriere weniger eine Sport- als eine Liebesgeschichte ist. Aber dass er es dennoch auf beide Arten haben kann. Er kann noch immer Siege anstreben und dabei nicht kaputtmachen, was er am Surfen so liebt. Denkt er jetzt an Wettkämpfe, fühlt es sich nicht gross anders an als beim Blick aufs freie Surfen. 

Und so sind es heute nicht nur die anderen Surfer, die ihn als Besten der Welt bezeichnen. Das Resultatblatt sagt dasselbe.

Kelly Slater and Jack Johnson in the South Pacific

Nachbar, Mentor, Freund: Surf-Legende Kelly Slater (r.), 47, und Florence beim Schach. Slater kennt ihn, seit er ein kleiner Bub ist. 

Todd Glaser/A-Frame
Von Johnette Howard  am 19. Juli 2019 - 06:00 Uhr