«Der Fokus lag nicht auf mir» Das Schwingjahr 2016 beginnt für Matthias Glarner mit einem Meilenstein: Am Ob- und Nidwaldner Kantonalen gewinnt der Meiringer seinen 100. Kranz. Das gelang erst 28 Schwingern. Sein Lauf geht mit einem emotionalen Sieg beim Berner Kantonalen in der Heimat weiter. «Ein Schlüsselmoment. Da wurde mir klar, ich bin wirklich gut drauf.» Am Brünig bezwingt er dann zum ersten Mal den Eidgenossen Christian Schuler. «Die Summe der Erfolge gab mir grosses Vertrauen», erzählt Glarner. Fortan zählt der damals 30-Jährige bei Medien und Fans zum erweiterten Favoritenkreis auf den Königstitel. Doch als Topfavorit werden andere gehandelt. Titelverteidiger Sempach, Gigant Stucki, Newcomer Orlik. Glarner solls recht sein. «Der Fokus lag nicht auf mir. Ich hatte Ruhe.»
«Vorsicht, wem ich die hand gebe» Trotz Topform lautet das Ziel Glarners nicht, Schwingerkönig zu werden. Er konzentriert sich auf seine Leistung: «Ich wusste, wenn ich in acht Gängen alles gebe, zähle ich zu den ersten fünf.» Alles gibt er auch in der Vorbereitung. Die letzten vier Wochen vor dem Eidgenössischen nennt Glarner «Leben extrem». Nichts wird dem Zufall überlassen. Er versucht all seine Erfahrung zu nutzen. Richtig trainieren, richtig essen, richtig schlafen. «Es ging so weit, dass ich vorsichtig wurde, wem ich die Hand gebe.» Wenn morgens bei seiner Arbeit in der Gondel einer hustet, desinfiziert sich Glarner regelmässig die Hände. Fondue essen mit Leuten, die erkältet sein könnten, ist tabu. In dieser Phase kann die kleinste Schwächung das Aus bedeuten. «Ich habe auf vieles verzichtet. Ich hätte mich extrem geärgert, wäre ich an meiner Nachlässigkeit gescheitert.» Als das Eidgenössische beginnt, kann sich Matthias Glarner nichts vorwerfen.
”Ich sagte zu Claudia: Was grännsch ez? bliib locker!“
Matthias Glarner
«Was wäre, wenn ich versage?»
Auch sein Kopf ist bei Beginn des Eidgenössischen topfit und auf alle denkbaren Situationen vorbereitet – seiner zehnjährigen Zusammenarbeit mit dem Sportpsychologen Robert Buchli sei Dank. Glarner visualisiert jede Situation. «Wie ist es, ins volle Stadion einzulaufen? Was ist, wenn ich im Schlussgang vor 56 000 Leuten stehe? Was wäre, wenn ich im 7. Gang um den Schlussgang schwinge?» Glarner spielt in Gedanken die Gänge mit den etwa 20 in Frage kommenden Gegnern durch. Und selbst den Misserfolg führt er sich vor Augen: «Was wäre, wenn ich versage? Wenn ich am Samstagmittag bereits keine Chance mehr habe, um den Königstitel zu schwingen? Dann wird der Kampf um den Kranz besonders hart.»
«Ich kam mir vor wie ein junger Muni» Es ist so weit. Samstagmorgen. Das grosse Fest steht an. Zuerst der Einlauf aller Schwinger in die Arena. «Sonnenaufgang, das Stadion ist voll, du läufst ein. Der Moment, in dem mir bewusst wird, wieso ich das als Sportler alles mache.» Glarner nimmt die Stimmung bewusst wahr, tankt Kraft. Manchmal schweifen seine Gedanken dennoch ab: «Der technische Leiter sagte irgendwas, doch ich war in meiner eigenen Welt.» Dann reihen sich die Schwinger auf, die Nationalhymne erklingt. «Ich kam mir vor wie ein junger Muni, der zum ersten Mal auf die Weide darf.» Glarners Vorfreude siegt über seine Nervosität.
19. Dezember 1985
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«Essen und schlafen – das musste ich vorher erledigt haben» Der Samstag läuft gut. Nach vier Gängen zeigt das Resultatblatt: +–++ (3 Siege, 1 Gestellter). Das visualisierte Worst-Case-Szenario ist nun weit weg. Die Chancen auf den Königstitel sind intakt. Als Glarner abends ins Bett fällt, ist er erschöpft. Einschlafen kann er allerdings nicht, auch wenn er sich hier bei seinen Schwiegereltern in Müntschemier, nur 15 Minuten von der Arena entfernt, heimisch fühlt. Als er endlich einschläft, klingelt schon bald wieder der Wecker. Um 4 Uhr morgens ist Tagwacht. Beunruhigt ist er nicht. «Ich wusste, ich habe diese Reserven in den Wochen vorher gefüllt.» Um 5 Uhr wird in der Garderobe gefrühstückt. Das ist zumindest der Plan. Heute schlägt Glarner die Nervosität auf den Magen. Keinen Bissen bringt er hinunter. «Ich wusste, dass es vielleicht meine letzte Chance ist. Ich hatte mehr zu verlieren als damals, als unbeschwerter Schwinger von 20 Jahren.» Er versucht es mit einem Schluck Kaffee – und muss sich übergeben. Dann beisst er in ein Biberli. Er übergibt sich erneut. «Mir wurde klar, schlafen und essen – das musste ich alles vorher erledigt haben.» Glarner findet in den Teamkollegen Leidensgenossen. «Ich war bei weitem nicht der Einzige, der über der Kloschüssel hing.» Nach dem ersten Gang fühlt sich Glarner besser, findet seinen Flow. Zum Zmittag isst er ein paar Nudeln und einige Bissen Schweinsplätzchen. Zwischendrin lenkt er sich ab, auch ein Spässchen mit den Teamkollegen liegt drin.
”Das ist mir extrem eingefahren. Kurzzeitig habe ich ein wenig die Fassung verloren“
Matthias Glarner
«Meist genügt ein Abklatschen» Seine Angehörigen sieht Glarner während des ganzen Wochenendes fast nie. Zu wissen, dass seine Partnerin Claudia, seine Eltern und sein Sportpsychologe vor Ort sind, reicht ihm. «Meist genügt ein Blick oder ein kurzes Abklatschen.» Auch die Teamkollegen, darunter sein Cousin Simon Anderegg, helfen vieles abzufangen. «Das ist sehr wertvoll, sie wissen, wie es ist und was es braucht», sagt Glarner. «Das macht den Sport und das Eidgenössische so grossartig: die Intensität, die Emotionen – ob positiv oder negativ. Man kommt an seine Grenzen, lernt sich selber und die anderen extrem gut kennen. Das will ich unbedingt noch einmal erleben.»
«Verliere ich, bin ich der Oberdepp» In der Garderobe schaut Glarner kurz vor dem Schlussgang auf dem Smartphone einen Teil des Spiels FC Basel gegen FC Thun; dort spielt sein Bruder Stefan. An den Moment, als er zum Schlussgang aufbricht und in die Arena schreitet, erinnert sich Glarner nicht. «Ziemlich sicher kam jemand und sagte mir, dass ich jetzt los muss. Ich könnte nicht sagen, wer das war. Ich befand mich in einer Art Trance. Viele Momente kenne ich nur von TV-Bildern.» Die Erinnerung setzt wieder ein, als er in den Sägemehlring steigt und sieht, wie seine Teamkollegen um den Brunnen stehen. «Das ist mir extrem eingefahren. Beinahe habe ich kurz die Fassung verloren, hatte Gänsehaut.» In Glarners Kopf schwirren die Gedanken. Auch Zweifel. «Schaffe ich es?» Einmal mehr stellt er sich ein Negativ-Szenario vor: «Wenn ich rausgehe und im ersten Zug verliere, bin ich der Oberdepp der Nation.» Dieser Gedanke birgt etwas Positives: «Ich schwor mir, dass das nicht passiert, und war extrem aufmerksam.» Der Kampf gegen Orlik beginnt. «Ein Kampf auch gegen mich selber.» Während der ersten drei Züge ist Glarner hellwach. Er sagt sich: Ich verliere nicht, ich verliere nicht. Es folgen einige Chancen, die er nicht zu nutzen weiss. Sein Selbstgespräch geht weiter. «War das eine Chance zu viel, die ich nicht genutzt habe? Folgt jetzt der Konter?» Der Zweikampf dauert, die Kräfte beider Schwinger lassen allmählich nach. Glarner verliert sein Zeitgefühl. Wie viele Minuten bleiben? Er weiss es nicht. Zurufe von aussen nimmt er nicht wahr. Dann sagt er sich: «Sieg oder Sarg. Volles Risiko. Er oder ich. Es gibt keinen Gestellten.» Er weiss, nur so kann er damit leben – im Wissen, alles versucht zu haben.