Er ist in Jamaika geboren und mit 15 Jahren in die Schweiz gekommen. Für Wettkämpfe reist er seit Jahren rund um den Globus – die WM im Oktober etwa ist in Katar –, fürs Training pendelt er je nach Jahreszeit zwischen Basel, Florida und London. Alex Wilson, der beste Schweizer Sprinter, hat viel von der Welt gesehen. Doch die Stadt Zürich ist für den Basler unbekanntes Terrain. Ausnahmen sind Hotels, die Umgebung rund ums Letzigrund-Stadion und ein jamaikanisches Restaurant in der Nähe des Stadions. Weder den See noch das Nachtleben Zürichs hat er bisher gesehen oder erlebt. «Wo sind wir denn hier?», fragt er, als er im Tram sitzt, das vom Paradeplatz die Zürcher Bahnhofstrasse entlangfährt. Er weiss nicht viel über die Limmatstadt und ihre Einwohner, doch gibt sich offen – wie man es von ihm gewohnt ist. «Die Zürcher sollen arrogant sein? Mit solchen Aussagen kann ich nichts anfangen. Ich mag alle Leute, die freundlich sind», sagt der 28-Jährige. Während sich Wilson normalerweise nur für Höchstleistungen im Sport interessiert – im Juni verbessert er den Landesrekord über 100 m und 200 m und bleibt über die halbe Bahnlänge mit 19,98 s als erster Schweizer unter 20 Sekunden – nimmt er sich für einmal Zeit, in Zürich Weltneuheiten und Besonderheiten abseits des Sportplatzes zu entdecken.
Sukkulentensammlung, Mythenquai
So viel grün und das mitten in der Stadt. Mit einem fragenden Blick, der sagt «wo sind wir denn hier gelandet?», bewegt sich Alex Wilson im Gewächshaus zwischen Pflanzen und Stacheln. Dass Zürich seit 1931 die grösste und bedeutendste Sukkulentensammlung weltweit beherbergt, dürfte nicht nur für den Sprinter eine Überraschung sein.
Ziemlich versteckt in Seenähe am Mythenquai wachsen in Gewächshäusern und Steingärten mehr als 4400 verschiedene Arten und mehr als 20 000 Kakteen und andere Sukkulenten. Die Pflanzen haben die spezielle Fähigkeit, lange Wasser zu speichern. Im Gegensatz zu Wilson, dem es nach kurzem Aufenthalt im fast tropenartigen Klima sofort die Schweisstropfen auf die Stirn treibt. Wilson hat andere unverkennbare Merkmale und Fähigkeiten. Mit seiner erfrischend ehrlichen Art und seinen lockeren Sprüchen unterhält er das Publikum wie kein zweiter Schweizer Sportler. Doch er hat zudem ein Talent, das er bisher noch nicht unter den Augen der Öffentlichkeit unter Beweis gestellt hat: «Ich koche sehr gern und gut – für die ganze Familie!»
Seebad, Utoquai
Zürich ist eine Wasserstadt. Die Stadt an der Limmat zählte 2016 insgesamt 1237 Brunnen und ist damit eine der brunnenreichsten Städte der Welt. Doch nicht nur Wasser trinken, sondern auch darin baden ist in Zürich en vogue: Gemessen an der Einwohnerzahl hat die Zwinglistadt mit 25 Badis die höchste Bäderdichte der Welt.
Beim Besuch in der Badi Utoquai wird es auch für Alex Wilson nass. Das passt ihm jedoch gar nicht. Nicht wegen des Wassers an sich, er liebt es und schwimmt in seinem hauseigenen Pool regelmässig seine Längen. Doch die Kälte behagt ihm nicht. «Da drückt wohl der Jamaikaner in mir durch», sagt Wilson. Und schliesslich der Sprinter: Er rennt so schnell unter der Dusche durch, wie man es von ihm auf der Tartanbahn gewohnt ist. Er belässt es bei seinem Besuch am Zürichsee und dem auf Pfählen und Betonpfeilern gebauten Kastenbad beim Relaxen in der Sonne, die nach kurzem Gewitter durch die Wolken drückt. «Das ist mein erstes Mal am Zürichsee. Ich muss sagen, hier gefällts mir – fast wie Ferien», sagt der Sprinter. Fast. Er ist mitten in der Wettkampfsaison. Deutlich wird das nicht nur, als er seine Muskeln spielen lässt: Er genehmigt sich keinen einzigen Schleck des Raketen-Glaces.
19. 9. 1990
alex-wilson.ch
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Twitter: @SprintWilson
Rathaus, Limmatquai
Die öffentlichen Verkehrsmittel in der Schweiz sind zweifelsohne Weltklasse. Der Hauptbahnhof Zürich gilt mit 2915 Zugfahrten pro Tag als einer der meistfrequentierten Bahnhöfe der Welt. Auch punkto Pünktlichkeit gibts einen Spitzenplatz: 2017 erreichten 89 Prozent aller Reisenden ihr Ziel mit weniger als drei Minuten Verspätung – das ist
die höchste Pünktlichkeit Europas. Und es gibt im Zürcher Trambetrieb bald eine Weltneuheit.
In letzter Sekunde auf das Tram oder den Zug rennen und schliesslich total verschwitzt und erschöpft auf den Türknopf drücken, dann verzweifelt realisieren, dass die Tür bereits geschlossen ist – das gehört bald der Vergangenheit an. Ab Herbst werden in Zürich neue Trams getestet, die mit LED-Leuchten ausgestattet sind. Wenn sie grün leuchten, sind die Türen an den Haltestellen noch geöffnet. Bei rot sind die Türen geschlossen. So wissen alle von weitem, ob sich ein Sprint lohnt. Alex Wilson betrifft diese Neuheit nicht gross. Erstens ist er sowieso lieber mit dem Auto unterwegs. Zweitens ist er zu Fuss schneller als das Tram. Bei einem Sprint erreicht er eine Höchstgeschwindigkeit von 43 Kilometer pro Stunde.
Café Jamaican Flavour, Langstrasse
Die Stadt Zürich besetzt auf diversen Rankings den ersten Platz. So auch auf der Liste des weltweiten teuersten Kaffees: 3,24 Euro bezahlt man durchschnittlich für einen Kaffee. Dennoch wird das Koffeingetränk fleissig konsumiert: 3,9 Kilo pro Jahr pro Kopf. Auch punkto Kaffeekultur und der Fülle an Cafés hat die Stadt einiges zu bieten. Das Jamaican Flavour an der Langstrasse etwa – ein Lokal ganz nach Alex Wilsons Gusto. Gemütliche Wohnzimmeratmosphäre, internationales Flair, gepaart mit dem «jamaikanischen Geschmack», den Wilson mit «viel Grün, karibischer Lebensfreude und einem starken Gewürzduft» verbindet.
Bloss eine Strasse und 400 Meter entfernt, im Coffee-Shop Mame, bereitet gar die aktuelle Barista-Weltmeisterin Emi Fukahori die Kaffeekreationen zu. Doch weder der jamaikanische Kaffee noch die Weltmeisterin bringen Alex Wilson dazu, einen Kaffee zu trinken. «Ich mag den Geschmack einfach nicht.» Den Koffeinkick bekommt er auch durch andere Getränke. Und eine mutige Prophezeihung wagt er auch ohne Kaffeesatzlesen: «Ich verspreche: Ich renne dieses Jahr die 100 Meter noch unter 10 Sekunden!»