Wenn Anita Giovanoli, 71, in ihrem Wohnzimmer aus dem Fenster schaut, ist die enorme Kraft der Natur sichtbar: Wie eine graue Narbe zieht sich die Spur, die der Bergsturz vor einem Jahr hinterlassen hat, durch Bondo: Steine und Geröll liegen direkt vor ihrer heimeligen Stube in Spino.
Im August 2017 musste Anita Giovanoli ihr Zuhause fluchtartig verlassen. Mehr als drei Millionen Kubikmeter Fels, vermischt mit Schutt und Wasser, donnern vom Piz Cengalo ins Val Bondasca und lösen mehrere Murgänge aus – die sich Richtung Tal bewegen.
Die alte Holztruhe konnte sie retten
Heute lebt Giovanoli wieder daheim. Die Spuren an ihrem Haus sind beinahe alle verschwunden, der Alltag ist zurück. Die alte Holztruhe am Eingang konnte sie retten. «Aber alle Leintücher, die darin verstaut waren, sind futsch.»
Die neue Waschmaschine und den Warmwasserboiler hat Giovanoli bei der Sanierung auf hohe Betonsockel setzen lassen. «Falls nochmals was runterkommt.» Die Steinplatten sind gereinigt, die Wände neu gestrichen. «Vorgestern hat mein Bruder die letzte Lampe montiert», sagt Giovanoli und macht Licht.
Tochter rief dreimal an
Vor einem Jahr trank Anita Giovanoli zu Hause mit einer Freundin Kaffee. «Meine Tochter rief mich dreimal an, um mich zu warnen, aber ich habe nichts gehört», erinnert sie sich. Die Tochter, die in Soglio, oberhalb von Spino, wohnt, wurde unruhig und fuhr los, um die zwei Frauen zu holen.
15 Minuten später ist es passiert: Ein enormer Murgang wälzt sich durchs Seitental Val Bondasca und erreicht Bondo, Sottoponte und Spino. Häuser, Ställe und Strassen werden verwüstet und zerstört.
Der Bergsturz verursacht Schädenvon über 41 Millionen Franken. Acht Wanderer verlieren ihr Leben. Im Juli hat ein Rettungsteam ein letztes Mal nach ihnen gesucht. «Leider erfolglos. Die Suche ist jetzt abgeschlossen», sagt Rettungschef Marcello Negrini, 67. Auf dem Friedhof in Bondo wird es einen Gedenkstein für sie geben.
Meterhoher Schlamm
Nach dem Bergsturz kann Anita Giovanoli nicht mehr in ihrem Haus wohnen. Einmal kehrt sie kurz zurück, um ein paar warme Kleider zu holen. «Es war schon schwierig, das Haus so zu sehen.» Der Schlamm stand teilweise über einen Meter hoch – viele Habseligkeiten und Möbel der Rentnerin waren darunter vergraben. Daraufhin lebt Giovanoli einige Wochen in Soglio bei ihrer Tochter. «Das war nicht einfach für uns, auf einmal zusammen unter einem Dach zu leben.»
Nach zwei Monaten darf sie ins Haus. «Die Leute vom Militär und vom Zivildienst haben wunderbare Arbeit geleistet!» Giovanoli investiert viele Stunden, um ihr Haus, in dem sie alleine wohnt, wieder herzurichten. Sie putzt sorgfältig alle Konservendosen und alte Eimer. «Ich werfe Sachen nicht so gerne weg», sagt sie. «Aber auch ich habe manchmal genug von der ganzen Arbeit.»
Stolze Urgrossmutter
Ihre Versicherung ist für alle Schäden aufgekommen. Vom Spendengeld der Glückskette – fast sechs Millionen – wurden erst wenige Hunderttausend Franken ausgegeben. Das Leben im Bergell geht weiter. «Ich wurde in diesem Jahr zum vierten Mal Urgrossmutter», sagt Anita Giovanoli voller Stolz.
Ihre Enkelin Elisa Nunzi Giovanoli, 28, hat am 27. Juni einen Sohn zur Welt gebracht: Daniele! Doch auch an der jungen Mutter ist der Bergsturz nicht spurlos vorbeigegangen: «Ich habe gerade erst geträumt, dass der Berg nochmals gekommen ist – um fünf Uhr nachmittags.»
Wenn die Wolken heute über dem Tal aufziehen und Regen ins Bergell bringen, schauen viele Einheimische Richtung Piz Cengalo. «Unsere Ohren und Augen sind bei schlechtem Wetter immer sehr wachsam», sagt Negrini.
Erneuter Alarm in Bondo
Mitte August hat es wieder einen Alarm in Bondo gegeben: Der Fels bewegt sich schubweise. Die Gemeinde erneuert die Warnung, die Wanderwege Richtung Val Bondasca zu meiden. Doch das Gebiet ist attraktiv – besonders für Bergsteiger. «Derzeit gehen immer wieder Leute ins Tal rauf, das ist nicht gut!», sagt der Rettungschef.
Die Behörden sprechen von weiteren drei Millionen Kubikmetern Fels, die in dennächsten Wochen, Monaten oder Jahren abbrechen könnten. «Die Natur macht, was sie will. Man weiss nie, wann und ob etwas kommt», sagt Negrini. Er selber wohnt im Dörfchen Coltura, etwas oberhalb von Bondo. Die Gemeinde informiert die Bergeller via SMS, wenn sich etwas am Berg bewegt.
«Angst bringt mir nichts»
Anita Giovanoli lässt sich nicht erschüttern. Manchmal kommt eine alte Bekannte zum Kaffee vorbei. Sie fragt dann: «Wie kannst du hier so ruhig sein? Hast du keine Angst, dass der Berg nochmals kommt?» Anita schüttelt dann jeweils den Kopf. «Ich habe überhaupt keine Angst. Angst bringt mir nichts!»
Höchstens wenn sie nochmals flüchten müsste und am Hang hinter ihrem Haus auf eine Schlange treffen würde, hätte sie Angst. «Und falls nochmals etwas kommt, müssen wir einfach von vorne beginnen. So ist das halt!»
Von ihrer Stube aus schaut Anita Giovanoli aus dem Fenster. An den Anblick hat sie sich inzwischen gewöhnt. Wenn sie zur grossen, grauen Steinmasse hinüberschaut, die der Bergsturz hinterlassen hat, dann träumt sie manchmal von Lugano. Mit Wehmut und Nostalgie.
Als junge Mutter hat sie mit ihrer Tochter dort im Tessin gewohnt – und eine wunderschöne Zeit erlebt. «Wer weiss, wenn ich jünger wäre, würde ich vielleicht doch wieder dorthin ziehen.»